Tempelberg
Der Tempelberg in Jerusalem: jüdische und muslimische Geschichte auf engstem Raum.
AFP/AHMAD GHARABLI

Als "Schock, dass es keinen sicheren Hafen für Juden in dieser Welt gibt", bezeichnet Hanno Loewy, der Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, das Massaker der Hamas in Israel vom 7. Oktober. Er selbst hat danach zum Dialog aufgerufen.

STANDARD: Die Kulturszene zeigt sich angesichts des Gaza-Kriegs gespalten zwischen Solidarität mit Israel und Verständnis mit dem Leid der Palästinenser.

Loewy: Durch die Szene geht in der Tat ein tiefer Riss. Es ist kein Riss zwischen rechts und links, wie manchmal behauptet wird. Es ist ein Riss, der auch im Rest der Gesellschaft auszumachen ist und der viel damit zu tun hat, dass es in dieser Frage das große Bedürfnis gibt, Eindeutigkeit zu spüren. Das Problem ist aber, dass es diese Eindeutigkeit zwar in Bezug auf den 7. Oktober gibt, oder besser: geben sollte – aber wenn man auf den Konflikt als Ganzes in seiner historischen Dimension schaut, dann ist es vorbei mit dieser Eindeutigkeit.

STANDARD: Das Bedürfnis, zu den Guten zu gehören, verzerrt das Bild?

Loewy: Wenn moralische Unbedingtheit mit ins Spiel kommt, wird das Bedürfnis nach Eindeutigkeit befeuert. Dann passiert es, dass Menschen, die politisch an universale Werte glauben, bei diesem konkreten Konflikt plötzlich ihren Universalismus vergessen.

STANDARD: Gerade die Kunst- und Kulturszene rühmt sich gerne, Komplexität zuzulassen. Warum ist das bei dieser Frage so schwierig?

Loewy: Weil wir es mit einem langen Konflikt zu tun haben, in dem historisch beide Seiten auf gewisse Weise recht haben. Beide Seiten haben das Recht, in dieser Region zu leben. Solange wir das nicht anerkennen, sondern stattdessen eine der beiden Seiten privilegieren, wird man schnell zu einer Geisel in diesem Konflikt. Bereits vor 2.500 Jahren haben sich die umgebenden Mächte um den Landstrich gestritten. Und seit der Geburt des Christentums ist Jerusalem für eine Weltzivilisation die "Mitte der Welt". Um die man sich seither streitet. Das ist toxisch. Alle Versuche, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen, wurden von allen Seiten sabotiert.

STANDARD: Der Konflikt um Israel ist zu einem Teil des Kolonialdiskurses geworden, der besonders in der Kunstszene sehr heftig geführt wird, Stichwort Documenta.

Loewy: Es gibt endlich ein starkes Bedürfnis, die europäische Kolonialgeschichte aufzuarbeiten. Das ist auch richtig, dass das passiert. Im Namen des Kolonialismus sind unbeschreibliche Verbrechen begangen worden. Doch es gibt einen Webfehler in der Diskussion: Man spricht über den europäischen und amerikanischen Imperialismus und Kolonialismus und vergisst jenen anderer Mächte, den arabischen, türkischen oder chinesischen zum Beispiel.

STANDARD: Selbst so bedeutende Philosophinnen wie Judith Butler oder Nancy Fraser sprechen von Israel als einem kolonialen Projekt. Wie tragfähig ist dieses Wort im Kontext von Israel?

Loewy: Im postkolonialen Diskurs wird permanent verwechselt, dass die Staatsgründung Israels natürlich auch im Kontext Resultat kolonialer Interessen stand. Aber die zionistische Idee, einen eigenen Staat zu gründen, war im Grunde selbst ein dekoloniales Projekt – von Menschen, die mehr als einen guten Grund hatten, aus Europa zu fliehen, und sich schließlich selbst gegen die Briten und deren koloniale Interessen in der Region gestellt haben. Ohne einen kritischen Blick auf den Kolonialismus wird man die Staatsgründung Israels nicht verstehen. Und ohne einen kritischen Blick auf europäische oder amerikanische Interessen auch nicht manche sogenannten "Freunde" Israels. Aber das macht Israel und seine Menschen nicht zu einem "Siedlerkolonialismus".

STANDARD: Warum wird dennoch mit Worten wie Kolonialismus und Apartheid argumentiert?

Loewy: Das ist eine komplexe Frage. In den besetzten Gebieten herrscht Apartheid, in Israel selbst nicht. Für die einen ist "Apartheid" ein Begriff, um die unerträgliche Diskriminierung der Palästinenser in der Westbank zu beschrieben, für die anderen ein politischer Kampfbegriff, um den ganzen Staat Israel zu delegitimieren. Ich glaube, die meisten Leute, die mit diesem Vokabular hantieren, wollen nicht die politische Genese des Staates Israel oder das herrschende Unrecht kritisieren, sondern ein neues Unrecht schaffen. Sie wollen damit zum Ausdruck bringen, dass die arabische Bevölkerung dort die Einheimischen und die Juden die Fremden seien und deswegen die arabische Bevölkerung dort das Recht hat zu leben und zu herrschen, die anderen nicht.

STANDARD: Die Post Colonial Studies sind vor allem in der akademischen Welt der USA sehr einflussreich, weswegen dort die Verwerfungen besonders groß sind. Erleben wir gerade das Zerschellen einer hochkomplexen Theorie an der Praxis?

Loewy: Ich würde das so sehen, ja. Es zeigt sich, dass die Theorie gar nicht so theoretisch ist, sondern auch mit Ressentiments zu tun hat, mit Selbstanklagen, mit schlechtem Gewissen, vor allem aber mit Identitätspolitik. Und ich würde eine These wagen: Identitäre Politik ist im Grunde immer rechts, auch wenn sie sich ein linkes Mäntelchen umwirft. Und der Versuch, sich mit der Identitätspolitik anderer zu identifizieren, bedeutet keinen Universalismus, sondern ist das Umkippen in Romantik.

Hanno Loewy
Hanno Loewy leitet seit 2004 das Jüdische Museum Hohenems.
Christian Grass

STANDARD: Auf der anderen Seite erleben wir seit dem 7. Oktober eine Aushöhlung des Wortes Antisemitismus. Jede Kritik an Israel gilt sofort als antisemitisch.

Loewy: Ich bin oft genug dafür angegriffen worden, weil ich Leute, die irgendwann einmal eine BDS-Resolution unterschrieben haben, vor dem Vorwurf des Antisemitismus verteidigt habe. Das würde ich übrigens immer noch tun. Es ist nicht alles antisemitisch, was falsch ist.

STANDARD: Wie definieren Sie die Linie, an der Israel-Kritik in Antisemitismus umschlägt?

Loewy: Mit dem Begriff Antisemitismus sollte man sehr vorsichtig sein. Antisemitismus ist die gefährliche Dynamik eines Diskurses. Auf der palästinensischen Seite gibt es eine Hangabtriebskraft in Richtung Antisemitismus. Wer einem anderen das Lebensrecht, und sei es nur das Recht, an einem bestimmten Ort zu leben, abspricht, der hat ein großes Bedürfnis danach, den anderen zu dämonisieren. Antisemitismus liefert dafür alle notwendigen Bilder und Mythen. Vor allem, wenn man dem anderen eine unsichtbare Macht unterstellt. Auf der israelisch-jüdischen Seite geht es eher um Abwertung, sozusagen eine Hangabtriebskraft in Richtung Rassismus. Da gibt es die wildesten Theorien darüber, wie wenig wert Palästinenser seien, wie unkultiviert und "primitiv", oder ihre Existenz als nationales Kollektiv, das sie historisch eben geworden sind, wird einfach geleugnet.

STANDARD: Der 7. Oktober scheint das geradezu bestätigt zu haben.

Loewy: An diesem Tag geschah ein Massaker, das es in dieser Form an Juden seit 1945 nicht mehr gegeben hat. Es folgte dem Prinzip, den anderen vom Erdboden zu vertilgen. Das folgt einer Charta der Hamas, die eine Mischung aus islamistischem Antijudaismus und traditionellem europäischen Antisemitismus darstellt. Diese Charta sollten Leute wie Judith Butler oder Nancy Fraser endlich einmal zur Kenntnis nehmen. Für den Schock, den dieser Massenmord unter Juden weltweit ausgelöst hat, haben sie nur eine kalte Schulter. Der Schock, dass es keinen sicheren Hafen für Juden in dieser Welt gibt. Dieser zionistische Traum ist geplatzt.

STANDARD: Jüdische Stimmen wie jene von Igor Levit haben sich bitterlich über mangelnde Solidarität mit Jüdinnen und Juden nach dem 7. Oktober beklagt. Slavoj Žižek hat dagegen sehr schnell zur Kontextualisierung des Massakers aufgerufen. Zu schnell?

Loewy: Es hat gedauert, bis man die Dimension des Massakers verstehen konnte. Dass es vonseiten palästinensischer Migranten in Berlin gleich einmal eine aberwitzige Begeisterung für den 7. Oktober gegeben hat, hat natürlich das Klima völlig vergiftet. Auf der anderen Seite gab es eine reflexhafte Solidarität mit Israel, und zwar bedingungslos und mit allem. In der Tat war es nicht der richtige Moment, Israel zu kritisieren. Es gab davor viel Zeit für Kritik, die hätte man nutzen können. In konstruktiver Form.

STANDARD: Sie haben dagegen gleich zu Dialog aufgerufen und eine gemeinsame Erklärung mit Zekirija Sejdini vom Institut für islamische Theologie in Innsbruck veröffentlicht. Sind Sie dafür kritisiert worden?

Loewy: Ehrlich gesagt, nein. Wir sind schon seit langem in einem Kommunikationsprozess mit den islamischen Communitys. Es ging darum, dem, was der Mainstream und der rechte Populismus in Deutschland und teilweise auch in Österreich tut, nämlich Juden und Muslime gegeneinander auszuspielen, etwas entgegenzusetzen. Damit wird Antisemitismus nämlich nur befördert – und natürlich der Rassismus gegen Migranten und Muslime. Genau das will die Hamas. Sie wollen Polarisierung, antimuslimische Reflexe in aller Welt erzeugen und damit ihren Einfluss nicht zuletzt auf junge Menschen in islamischen Communitys befeuern. Das ist ihr eigentlicher Krieg, ein Krieg der Bilder. Auch die Palästinenser selbst sind Geiseln von Hamas in diesem Krieg. Und dagegen kann man nur gemeinsam etwas tun. (Stephan Hilpold, 25.11.2023)