Beschädigte mehrstöckige Wohnhäuser, umgeben vom Schutt eingestürzter Häuser. Ein paar Menschen gehen über die Trümmer.
Das Erdbeben im Februar ließ in Syrien (hier in der Stadt Dschindires)und der Türkei zahlreiche Häuser einstürzen.
IMAGO/NurPhoto/Hristo Vladev

Das Beben in der Türkei nahe der syrischen Grenze im Februar 2023 zählt zu den fünf verheerendsten Erdbeben der vergangenen Jahre: Etwa 60.000 Menschen verstarben in der Türkei, mindestens 8.000 in Syrien. Mehr als 125.000 Personen wurden bei dem Beben am 6. Februar mit einer Stärke von 7,8 sowie den Nachbeben verletzt, zahllose Häuser zerstört. Das Epizentrum lag in der Provinz Kahramanmaraş.

Das Erdbeben im Februar 2023 zählt zu jenen mit den bislang höchsten Opferzahlen.
USGS, Der Standard

Ein internationales Forschungsteam um Patricia Martínez-Garzón vom Deutschen Geoforschungszentrum Potsdam veröffentlichte nun im Fachblatt "Nature Communications" eine Analyse des Erdbebens. Daraus geht hervor, dass es in dieser Region bereits acht Monate vor dem Beben zu seismischen Aktivitäten kam, die sich beschleunigten und verstärkt Energie freisetzten. Dies kam innerhalb von 65 Kilometern um das Epizentrum vor. Vergleichbare seismische Ereignisse hatte es zuvor seit mindestens 2014 nicht mehr gegeben. Die Wochen vor dem Erdbeben hingegen waren dort relativ ruhig.

Erhöhtes Risiko

Die Zone ist bekannt für ein erhöhtes Bebenrisiko. Dort verläuft die Ostanatolische Verwerfung, die die Grenze zwischen der Anatolischen und der Arabischen Platte markiert. Das verheerende Beben Anfang Februar ging mit einem Riss einher, der an einer Nebenverwerfung auftrat. Dieser breitete sich anschließend auf die Ostanatolische Hauptverwerfung aus, wie das Forschungsteam feststellte.

Im Grenzbereich zwischen Türkei und Syrien treffen die Anatolische und die Arabische Platte aufeinander. Hier kann es vermehrt zu Erdbeben kommen.
Mikenorton (CC BY-SA 3.0)

Zu den bereits Monate zuvor aufgetretenen seismischen Ereignissen kam es sowohl an der Hauptverwerfung als auch an einer Nebenverwerfung, die den Fachleuten zufolge bisher zu wenig beachtet wurde. Eine umfassendere Erdbebenüberwachung und seismische Langzeitaufzeichnungen könnten unsere Möglichkeiten verbessern, Erdbebenvorbereitungsprozesse zu verstehen und sie von ungefährlichen, vorübergehenden Verformungen der Erde in dieser Region zu unterscheiden, schreiben die Geologinnen und Geologen.

Die Grafik zeigt die Erdbeben mit den meisten Todesopfern seit 1999. Das stärkste Beben seit Beginn der Aufzeichnungen erreichte 1960 in Chile einen Wert von 9,5, dabei starben allerdings geschätzt maximal 6.000 Menschen.

Schwierige Vorhersage

Denn die Schwierigkeit bei Erdbebenwarnungen ist: Wann kann man sich einer nahenden Katastrophe sicher genug sein, um Millionen von Menschen zu evakuieren? Was geschähe bei einem falschen Alarm? Klar ist, dass bestehende Siedlungen in gefährdeten Gebieten nicht ohne weiteres für immer aufgegeben werden, doch in solchen Regionen wäre erdbebensicheres Bauen besonders dringend nötig. Das Fehlen oder Umgehen entsprechender Sicherheitsregeln und das korrupte Verwenden entsprechender Gelder für andere Zwecke wurde im Zuge der Katastrophe in der Türkei und in Syrien stark kritisiert.

Trümmer zerstörter Häuser, an denen rote Luftballons befestigt wurden
In der Stadt Antakya erinnerte eine nichtstaatliche Organisation mit roten Luftballons an verschüttete Kinder.
IMAGO/Kyodo News

Obwohl es dringend notwendig ist, die Bevölkerung rechtzeitig zu warnen und wichtige Infrastruktur zu schützen, sei "eine kurzfristige Vorhersage von Erdbebenstärke, -zeit und -ort derzeit nicht möglich", heißt es in der Studie. Die Beobachtung und Analyse der Prozesse im Vorfeld eines Erdbebens als Indikatoren bleibe eine Herausforderung: Es gibt sehr viele Variablen, die ein mögliches Unglück beeinflussen.

Zukunft türkischer Beben

Um dies künftig sogar auf mittelfristige Sicht zu ermöglichen und Warnsysteme erheblich zu verbessern, müssen Expertinnen und Experten die Phasen besser kennen und interpretieren lernen, die einem Erdbeben vorausgehen. Die Autorinnen und Autoren der Studie fordern mehr lokale und regionale Erfassungsnetze, auch an den Nebenverwerfungen der Erdplatten. Im Idealfall lassen sich große Erdbeben so in Zukunft besser vorhersagen. Die Studie zeige, "dass es auf Basis geeigneter Messungen prinzipiell möglich ist, Orte kommender möglicher Erdbeben bereits Monate vor deren Eintreten zu identifizieren", sagt Studienautor Marco Bohnhoff vom Fachzentrum in Potsdam. "Das gibt den lokalen Behörden wichtige Informationen an die Hand, um die Resilienz von Bevölkerungszentren in der Nähe aktiver Verwerfungen zu verbessern."

Das ist besonders für die Türkei relevant: Dort gab es allein im 20. Jahrhundert 111 Erdbeben mit einer Stärke von mindestens 5,0. Die ökonomischen Kosten dürften pro Beben im Land etwa 100 Millionen US-Dollar betragen. Auch an der Nordanatolischen Verwerfung befürchten Fachleute in Zukunft ein starkes Erdbeben, das in der Metropole Istanbul eine Katastrophe auslösen könnte. (sic, 29.11.2023)