Die Globalisierung hat zwei Gesichter, ein schönes und ein hässliches. Laut Weltbank lebten 1990 zwei Milliarden Menschen in absoluter Armut, heute sind es 650 Millionen. Die zunehmende Integration von China, Vietnam, Bangladesch und Indien in die Weltwirtschaft hatte laut Weltbank einen großen Anteil an der Entwicklung. Das ist das schöne Gesicht.

Durch die wirtschaftliche Verzahnung mit autoritären Ländern erreichen zugleich immer mehr Waren westliche Märkte, bei deren Produktion Menschenrechte verletzt werden. Eine vor wenigen Monaten von Ökonomen der Sheffield Hallam University publizierte Studie zeigt etwa, wie nahezu jede westliche Automarke, von VW über Ford bis zu Tesla, Materialien hochproblematischer Erzeuger aus China bezieht. Die Autoren identifizierten dutzende chinesische Unternehmen, die in der Uiguren-Provinz Xinjiang Rohstoffe wie Kupfer gewinnen oder Stahl verarbeiten. "Wenn Sie in den vergangenen fünf Jahren ein Auto gekauft haben, wurden wahrscheinlich einige seiner Teile von Uiguren und anderen Zwangsarbeitern in China hergestellt", so das Fazit der Studie. Das ist die hässliche Seite.

Jugendlicher an einer Nähmaschine in Karur, Tamil Nadu, Indien.
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Um solche Praktiken hintanzuhalten, ringt die EU seit Jahren um ein Lieferkettengesetz. Der Vorschlag, eine Richtlinie, soll Unternehmen in die Pflicht nehmen, ihre Zulieferer und selbst deren Zulieferer genauer darauf zu prüfen, ob dort Menschenrechtsverletzungen geschehen. Die Unternehmen sollen verpflichtet werden, ihre Corporate Governance zu verbessern. Die Konzerne müssen Strategien erarbeiten, die die Verletzung von Grundrechten verhindern, und ein System der Überprüfung organisieren. Es muss Möglichkeiten geben, Verstöße an den Konzern zu melden. Bei Rechtsverletzungen droht Schadenersatz. Betroffen wären Unternehmen mit mehr als 500 Arbeitnehmern und einem weltweiten Umsatz von über 150 Millionen Euro. Dazu kämen kleinere Betriebe, wenn sie in Risikosektoren tätig sind, etwa in der Textilindustrie oder der Gewinnung mineralischer Ressourcen.

600 betroffene Konzerne

Das Gesetz ist umstritten. In Österreich, wo 600 Unternehmen von der Regelung betroffen wären, fürchtet die Industriellenvereinigung, dass die Richtlinie den Handel beeinträchtigt. Unternehmen könnten die Vorgaben niemals kontrollieren. Österreich hält sich aus den laufenden Debatten zu dem EU-Vorschlag bisher weitgehend raus.

Aus Österreich kommt nun ein Vorstoß, wie ein effektives Lieferkettengesetz aussehen könnte. Hinter der Initiative stehen der Chef des Forschungsinstituts Wifo, Gabriel Felbermayr, und der Komplexitätsforscher Peter Klimek. Letzterer leitet ein neues Forschungsinstitut zu Lieferketten (ASCII).

Klimek hat mit Kollegen untersucht, wie groß das Risiko ist, dass europäische Unternehmen in ihren Lieferketten Partner haben, die gegen Menschenrechte verstoßen. Ergebnis: De facto dürften Menschenrechtsverletzungen in sämtlichen Lieferketten vorkommen. Direkt und indirekt steckt damit in jedem Pullover oder Handy mit hoher Wahrscheinlichkeit Kinderarbeit oder sonst ein Grundrechtsbruch.

Wie kommt Klimek zu der Einschätzung? Die Experten haben von 30 Millionen EU-Unternehmen die Handelsbeziehungen mit Drittländern untersucht. Klimek stützt sich auf Daten aus Ungarn, wo erfasst wird, welche Unternehmen von welchen ausländischen Partnern beliefert werden. Datenbanken aus anderen EU-Ländern zeigen, dass Handelsbeziehungen ähnlich gelagert sind: Ein Autozulieferer in Ungarn bezieht meist aus den gleichen Sektoren im Ausland Waren wie ein Autozulieferer in Österreich. So wurde hochgerechnet, wie die 30 Millionen Unternehmen aus der EU global vernetzt sind, wo also ihre Zulieferer im Ausland sind und in welchen Sektoren. Gefunden wurden 900 Millionen Lieferbeziehungen.

Im zweiten Teil der Übung wurde geschätzt, wie hoch das Risiko für Menschenrechtsverletzungen in diesen Lieferketten ist. Dazu wurde auf Daten des US-Arbeitsministeriums zurückgegriffen. Das Ministerium unterhält eine Liste mit Produkten und ihren Herkunftsländern, bei deren Erzeugung wohl auf Kinderarbeit zurückgegriffen wird. Auf Österreich umgelegt zeigt die Analyse, dass fünf Prozent der Importe über ein ausländisches Unternehmen kommen, wo es mit hoher Wahrscheinlichkeit Kinderarbeit gibt.

Lange Ketten

Lieferketten sind lang. So kann es sein, dass ein problematisches Unternehmen aus dem Ausland an eine deutsche Firma liefert und die Ware erst über diese nach Österreich kommt. Bezieht man die zweite Stufe ein, dann steigt das Risiko auf über 80 Prozent, dass Kinderarbeit via Lieferkette in der Ware steckt. Schon wenige problematische Unternehmen, die viele Verbindungen haben, tragen dazu bei.

In der dritten Stufe, bei dem schon viele Unternehmen beteiligt sind, ist die Wahrscheinlichkeit nahe 100 Prozent. Ähnlich sind die Zahlen, wenn man auswertet, ob in der Lieferkette Konzerne sind, die laut dem Business & Human Rights Resource Centre, einer englischen NGO, irgendwo wegen Menschenrechtsverletzungen geklagt werden.

Auch wenn gegen die Auswertung Einwände zulässig sind – eine Klage ist etwa noch kein Urteil –, zeigt sie laut Klimek und Felbermayr, dass der EU-Ansatz, Kontrolle über Lieferketten auszuüben, zu aufwendig wäre. Millionen von Lieferverbindungen müssten überwacht werden. Alternativvorschlag der beiden: Die EU sollte mit Positiv- und Negativlisten arbeiten. Ausländische Unternehmen sollten sich einem Zertifizierungsprozess unterziehen, bei dem geprüft wird, ob sie Grundrechte einhalten. Unternehmen dürften nur mehr mit zertifizierten Konzernen handeln.

In der EU wird 2024 mit einer Einigung auf die Richtlinie gerechnet, dannach muss sie von den Nationalstaaten umgesetzt werden. (András Szigetvari, 29.11.2023)