Ukrainische Soldaten mit einer russischen Drohne, die sie abgefangen haben.
In der ukrainischen Armee gibt es sogenannte Drohnenjägerteams, die, wie der Name schon sagt, feindliche Drohnen abfangen sollen. Hier war eines davon nahe Kiew erfolgreich.
AFP/ROMAN PILIPEY

Die Priorität, sagte Wolodymyr Selenskyj höchstpersönlich, sei "offensichtlich". Am Donnerstagabend kündigte der ukrainische Präsident in seiner täglichen Videoansprache an, den Bau von Schutzräumen und Festungsanlagen entlang der Kriegsfront zu forcieren. Was er damit meint, liegt tatsächlich auf der Hand: Die Ukraine konzentriert sich ab sofort auf das Verteidigen der von ihr kontrollierten Gebiete, die für viele gescheiterte Gegenoffensive gegen Russland scheint damit zu Ende zu gehen. Jedenfalls vorerst.

Zuvor hatte sich der Präsident selbst wieder einmal im Frontgebiet blicken lassen. Im Abschnitt Kupjansk erinnerte er an die gefallenen Soldaten, zeichnete mehrere Kommandeure aus und sprach den Menschen vor Ort Mut zu. Doch auch dort zeigt sich, dass Russland auf dem Vormarsch ist: Seine Truppen nähern sich mehr und mehr der Stadt Kupjansk an, die die Ukraine im September 2022 zurückerobert hatte.

Einige Tage zuvor meldete Moskau bereits die Eroberung der Ortschaft Chromowe nahe der Stadt Bachmut, die Russland im Sommer nach monatelangen Kämpfen eingenommen hatte. Apropos Bachmut: Geht es nach dem österreichischen Analysten Franz-Stefan Gady vom Londoner Institute for International Strategic Studies (IISS), dann ist die größte Angst der Ukraine für die nächsten Monate, dass es zu einem "zweiten Bachmut" kommen könnte. Wo eben die ukrainischen Streitkräfte nach und nach aufgerieben werden". Dabei, sagte Gady in "ZDF heute", blickt er auf die Stadt Awdijiwka, die wie Bachmut ebenfalls im hartumkämpften Donbass liegt.

Einkesselung droht

Rund um die Kleinstadt nahe der Front toben schon seit Wochen verstärkt Kämpfe, der Ortschaft droht die Einkesselung durch russische Kräfte, und damit gehe laut Gady das Risiko einher, dass "die ukrainischen Streitkräfte hier langsam ausgeblutet werden".

Ukrainischen Berichten zufolge hat Russland bei der Ortschaft fast 40.000 Soldaten zusammengezogen. Seit Anfang Oktober seien die russischen Truppen dort bis zu zwei Kilometer vorgerückt, erklärte das britische Verteidigungsministerium am Dienstag in seinem täglichen Ukraine-Briefing. "Obwohl bescheiden, bedeuten diese Fortschritte die größten russischen Geländegewinne seit Frühling 2023", hieß es. "Sie haben die beteiligten Einheiten tausende Opfer gekostet."

Vor den Toren von Donezk gelegen, wurde Awdijiwka seit Beginn der Kämpfe 2014 wie eine Bastion von ukrainischen Verbänden gehalten. Das will Russland nun ändern. Vermutet wird, dass die Ortschaft, in der vor dem Krieg etwa 30.000 Menschen lebten, bis 17. Dezember erobert werden soll. An diesem Tag geht der Kongress von Wladimir Putins Partei Einiges Russland über die Bühne – und es wird erwartet, dass der Kreml-Chef dort seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl im März 2024 verkündet. Dies würde er sicherlich gerne mit einer Erfolgsmeldung aus der Ukraine verknüpfen.

Kein Ende des Krieges in Sicht

Auf alle Fälle, vermutet Experte Gady, werde die Ukraine längere Zeit in der Defensive bleiben, während Russland so wie im vergangenen Winter eine größere Offensive starten werde. Russland habe seiner Meinung nach bei Artilleriemunition, Drohnen und elektronischer Kampfführung einen quantitativen Vorsprung, beiden Seiten hätten zudem mit Personalproblemen und Erschöpfung zu kämpfen. Ein rasches Ende des Krieges sieht er aber nicht.

Erschwerend kommt für die Ukraine noch hinzu, dass das Land von einem schweren Schneesturm heimgesucht wurde, der Tote und Verletzte forderte. Zeitweise waren in der Zentral- und Südukraine mehr als 2.000 Ortschaften ohne Strom. Im vergangenen Winter hatte Russland mit Drohnen vor allem die ukrainische Energieinfrastruktur angegriffen, um die dortige Bevölkerung zu zermürben. Ähnliches erwartet Kiew auch diesen Winter. (Kim Son Hoang, 2.12.2023)