Beim Butterbrotstreichen bringt mich die Nachbarskatze zum Nachdenken. "Mama, schau! Die Katze ist wieder da", ruft mein zweijähriger Sohn, der neben mir am Esstisch vor dem großen Fenster sitzt. Er zeigt mit seinem Finger aufs Stiegenhaus gegenüber. Dort beobachten wir regelmäßig, wie die Katze einer Nachbarin eine morgendliche Erkundungstour durchs Stiegenhaus unternimmt. Manchmal winken wir sogar, und die Katzenbesitzerin winkt zurück.

Monotone Tätigkeiten beflügeln den Geist. Mir fällt plötzlich auf, während ich meinem Sohn das nächste Butterbrot streiche und die Katze längst wieder weg ist, wie gern ich diesen Austausch mit den Nachbarinnen und Nachbarn durch die Fenster mag. Auch jetzt, da es abends so früh dunkel wird, sehen wir im verglasten und hell erleuchteten Stiegenhaus gegenüber die Geschäftigkeit. Ich liebe das!

Vorhang
Manche können nicht mit, andere nicht ohne: Vorhänge.
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So geht es bei weitem nicht allen. Schon bei mir daheim gibt es eine starke Gegenposition. Mein Mann greift jeden Abend zum Vorhang, immer kurz bevor er sich aufs Sofa setzt. Wohlgemerkt: Er ist dabei voll bekleidet und hat auch sonst nichts vor, was man vor Blicken schützen müsste. Er will nur eine Serie schauen oder ein Buch lesen. "Warum", frage ich ihn immer wieder, "machst du dafür die Vorhänge zu?"

Während ich also am Frühstückstisch sitze, überlege ich, wieso es manchen Menschen so wichtig ist, dass niemand sie beim Wohnen sieht? Und warum ist es mir egal?

Fest steht: Vorhänge sind umstritten. Es gibt bodenlange, fensterbrettkurze, blickdichte und durchsichtige, manche sind bunt, manche einfarbig. Gardinenschals, Scheibenvorhangerln, Verdunkelungsvorhänge. Einst wurden sie erfunden, um die Kälte draußen zu halten. Und noch heute sperren sie Licht, Blicke, Zugluft und Hitze aus oder schlucken Schall. Andere hängen nur rum, als Deko. Dann gibt es natürlich auch noch jene, die gar nicht erst aufgehängt werden. Von Vorhanghassern, die den Sinn und Zweck dahinter nicht sehen, sie abschätzig Staubfänger schimpfen.

Reine Dekoration

Mein Mann war früher auch so einer. Ein Vorhanghasser. Als wir uns kennenlernten und er in einer Studenten-WG lebte, hatte er keine Vorhänge. Ich hingegen ließ mir zum Einzug ins erste WG-Zimmer bodenlange und knallbunte Vorhänge schenken. Ich benutzte sie nie, sie waren lediglich Deko und Ausdruck meines damals recht fragwürdigen Geschmacks. Er hingegen zog schon damals in seinem kargen Zimmerchen die Jalousien abends runter, "dass ihm niemand reinschaut", wie er es nennt.

Meine Mutter hat bis heute Vorhänge, die reinen Dekorationszwecken dienen. Zumindest jene, die rechts und links neben dem Fenster hängen. Sie sind farblich abgestimmt auf Möbelbezüge und Pölster. Manche kann man nicht einmal richtig zumachen. Reinschauen soll ihr dennoch niemand. Dafür hat sie Scheibenvorhangerln selbst gehäkelt oder lässt die Jalousien im Schlafzimmer runter – obwohl dort, im Dorf, nie jemand vorbeigeht.

Ich beginne zu recherchieren. "Man liebt sie oder man hasst sie" ist die gängige Meinung im Internet über Vorhänge. Immer wieder stoße ich im Netz auf Niederländerinnen, die scheints gar nichts von Gardinen halten und ihre Fenster lieber unbedeckt mögen. Erklärungsversuche dafür gibt es viele.

Nichts zu verstecken

Die Selbstdarstellung im eigenen Heim wird immer beliebter. Auf sozialen Medien posten viele ihr Wohnzimmer. Warum dann auch nicht die Vorhänge offenlassen? Schaut her, was ich habe und was ich mir leisten kann! Oder, nach protestantischer Manier: Schaut ruhig rein, ich habe nichts zu verstecken. Das sehen übrigens viele als Erklärung in den Niederlanden.

Ich stoße auf einen Artikel von CNN Travel, in dem vier Holländerinnen erzählen, warum sie keine Vorhänge haben. Eine sagt, es sei immer schon so gewesen. Und sie spricht von sozialer Kontrolle: Dadurch seien die Straßen sicherer, weil viele Augen sie im Blick haben. Eine andere Frau berichtet, sie liebe die Geselligkeit, den Kontakt mit der Außenwelt. Geschlossene Vorhänge würden unsozial und spießig wirken. Bei ihr seien alle willkommen, auch sie selbst sei neugierig und schaue sich gern durch die Fenster die Einrichtung anderer an, das inspiriere sie.

Vorhänge sind spießig - das denken zumindest manche Menschen in den Niederlanden.
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Für viele Österreicherinnen und Österreicher ist das vorhanglose Leben der Niederländer eine Horrorvorstellung. Hierzulande hält man die Fenster lieber bedeckt. Das Leben findet in geschlossenen Räumen statt – was dort geschieht, darüber wird, ganz nach Manier des Biedermeiers, nicht gesprochen – auch heute noch. Doch was sagt das über uns aus? Stehen unbedeckte Fenster für weltoffene und kontaktfreudige Menschen? Heißt das im Umkehrschluss, die Österreicher seien verschlossen und spießig? Womöglich, überlege ich, hängt an den Vorhangstangen des Landes gar das Wesen unserer Nation?

Ein Anruf bei Robert Rothmann. Der Rechtssoziologe ist Experte für Datenschutz und freut sich über meine ungewöhnliche Anfrage. Es gebe unterschiedliche Arten, wie in Gruppen und Gesellschaften Privatsphäre verhandelt wird, sagt er. Die Niederlande seien liberal in vielerlei Hinsicht: Drogenkonsum, Sterbehilfe. Ein direkter Kausalzusammenhang sei wohl zurückzuweisen, die calvinistisch-aufgeklärte Haltung präge aber die Gesellschaft. Auch wenn es um das Teilen privater Informationen geht, seien die Menschen dort eher offen, weiß Rothmann aus Eurobarometer-Umfragen. Hier könnte es Parallelen geben, sagt er.

Vertrauen ist gut

Dass sich die Menschen in manche Gesellschaften nicht an fremden Blicken in ihr Zuhause stören, bedeutet aber nicht, dass ihnen Privatsphäre nicht wichtig ist. Die Menschen vertrauen womöglich darauf, dass sie nicht angestarrt werden. Rothmann bringt einen Vergleich: In der U-Bahn, wo Menschen sehr nahe beieinanderstehen, starre man einander auch nicht an. "Das wäre ein Eingriff in die Privatsphäre." Oder auch am FKK-Strand. Der Soziologe Erving Goffman schreibt darüber: "Wo die Körper nackt sind, sind die Blicke verdeckt." Die Menschen in den Niederlanden, überlege ich, könnten recht haben mit ihrem Vertrauen in Passanten.

Doch Rothmann erzählt mir auch von Michel Foucaults Auslegung des Panopticon, eines Gefängnisses, das so gebaut ist, dass die Inhaftierten von nur einer Person rund um die Uhr überwacht werden können. Da sie wissen, dass sie immer beobachtet werden können, schreibt Foucault, verhalten sie sich letztlich jederzeit so, als würden sie überwacht.

Auch mein Mann kennt Foucaults Theorie und erklärt mir: Würde er abends den Vorhang nicht zuziehen, verhielte er sich automatisch anders. Ein Gefühl, das ich zwar in der Theorie nachvollziehen kann – in der Praxis verstehe ich jedoch noch immer nicht, was die Nachbarn denn da nicht sehen dürfen, wenn man sich nur ein Fußballspiel im Fernsehen anschaut und nicht, wie in Hitchcocks Das Fenster zum Hof, einen Mord plant. Ich wollte jemanden fragen, der sich damit auskennt. Dafür fahre ich ins Zentrum der textilen Blickbarrieren.

Allein daheim

Näherei und Stoffhandel Cortina, Custozzagasse, Wien-Landstraße. "Warum sind Vorhänge so umstritten?", frage ich Lalica Veselinovic, die seit 13 Jahren Vorhänge schneidert und verkauft. Sie weiß sofort, wovon ich spreche. Sichtschutz sei ein großes Thema, wenn nicht der häufigste Grund für den Vorhangkauf. "Manche Sachen gehen einfach nur die Familie etwas an, wir entscheiden, was die Nachbarn sehen oder wissen dürfen", sagt sie. Veselinovic, die aus Serbien stammt, findet es schade, dass die Österreicherinnen so zurückgezogen leben. "In Serbien tratschen wir viel mit den Nachbarn, hier ist das ganz anders." Reinschauen dürfe aber da wie dort niemand, fügt sie hinzu.

Lalica Veselinovic
Lalica Veselinovic näht und verkauft Vorhänge in Wien-Landstraße.
Redl

Gerade, als ich zu glauben beginne, die Menschen in meinem Land seien alle bieder und verschlossen, fällt mir eine Geschichte ein, von der eine junge Wienerin unlängst in den sozialen Medien berichtete. Ich rufe sie an, und sie erzählt mir: In der Pandemie habe sie aus Spaß ihre Telefonnummer in großen Ziffern in ihr Fenster gehängt. Prompt kam die Nachricht: "Wir sehen dich immer nackt Blumen gießen." Die Nummer habe sie zwar runtergenommen, die Blumen gieße sie aber immer noch nackt, selbst wenn die Vorhänge offen sind. "Mich stört das nicht."

Endlich dämmert es mir: Ja, womöglich sind die Menschen anderswo aufgeschlossener und kontaktfreudiger als hierzulande. Doch die Frage, ob Vorhänge "ja oder nein" scheint doch eine der Persönlichkeit und nicht der Nationalität zu sein. Ich befrage dazu die Architekturpsychologin Christina Kelz-Flitsch: Introvertierte fühlen sich in einem höhlenartigen Zuhause wohler, können sich in kleinen, intimen Räumen besser entspannen. Extrovertierte hingegen mögen Offenheit auch in ihren Räumen und brauchen nicht unbedingt Vorhänge, weil sie die Menschen, die draußen am Haus vorbeigehen, beobachten möchten.

So wie ich am Frühstückstisch. Ich bin erleichtert und schöpfe wieder Hoffnung für Österreich. Der offene Vorhang fühlt sich plötzlich nicht mehr wie eine Nebensache an, sondern wie ein Symbol für mehr Weltoffenheit und auch ein bisschen wie eine Einladung an meine Nachbarn, es mir doch gleichzutun. (Bernadette Redl, 10.12.2023)