Mann mit Downsyndrom in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderung
Derzeit sind in Österreich rund 28.000 Menschen mit Behinderungen in Werkstätten beschäftigt. Für diese Arbeit bekommen sie im Monat teils zwischen 45 und 560 Euro.
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Wussten Sie, dass Menschen mit Behinderung hierzulande während der Pandemie 75.000 Covid-Testpakete verpackten und dafür im Monat nur circa 100 Euro bekamen? Oder dass jedes Unternehmen pro 25 Beschäftigte eine Person mit Behinderung einstellen muss und dass nur wenige Unternehmen in Österreich diese Quote erfüllen? Das und vieles mehr deckten das Medium "Andererseits" und die Rechercheplattform "Dossier" in ihrer gemeinsamen, aktuellen Magazinausgabe mit dem Namen "Behinderungen am Arbeitsmarkt – Österreichs Irrweg" auf.

Ausgangspunkte für die Recherche war, dass die Redaktion "Andererseits" eine große Datenmenge zugespielt bekommen hatte. Darin finden sich die Firmennamen, die Anzahl ihrer Mitarbeitenden und die Information, wie viele Menschen mit Behinderung die Firmen beschäftigen. Die Daten stammen aus dem Jahr 2020. Daraufhin schlossen sich die Journalistinnen und Journalisten von "Andererseits" mit der Rechercheplattform "Dossier" zusammen. Gemeinsam wollten sie herausfinden, was in Österreich beim Thema Inklusion alles schiefläuft. Untersucht werden in dieser Magazinausgabe unter anderem das Bildungssystem, das AMS, Werkstätten, welche Verantwortung die Politik hat und welche Firmen die Beschäftigungspflicht von Menschen mit Behinderung einhalten.

Das Problem mit den Sonderschulen

In dem Nationalen Aktionsplan Behinderung 2021–2030 wurde Folgendes festgelegt: "Ab dem Schuljahr 2021/2022 werden keine weiteren Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen mehr an Sonderschulen aufgenommen." Das Ziel dieser Maßnahme ist, dass Menschen mit Behinderung am regulären Schulunterricht teilhaben. Es gab auch bereits großangelegte Versuche, um die Inklusion an Schulen zu ermöglichen. 2018 wurden diese aber wieder eingestellt. Stattdessen kündigten laut Tobias Buchner, dem Vorsitzenden des Monitoringausschusses, einige Bundesländer an, sonderschulische Angebote sogar wieder ausbauen zu wollen.

"Man sollte Strukturen schaffen, die so flexibel sind, dass die Stärken aller Schülerinnen und Schüler gefördert werden. Das heißt nicht nur, dass der Lehrplan und die Art der Wissensvermittlung angepasst werden müssten, sondern sich noch viel mehr verändern müsste: zum Beispiel wie Klassen aufgebaut sind, wie Schulstufen organisiert werden oder wie Leistung definiert wird", sagt Theresa-Marie Stütz, die zu Schulen für das Magazin recherchierte. Die Umsetzung dieser Ideen scheint gerade in die Ferne zu rücken, auch weil der schulische Bereich mit Blick auf Menschen mit Behinderung "chronisch unterfinanziert ist", wie Tobias Buchner sagt. Der Lehrermangel verschärft die Probleme zusätzlich.

Das System Werkstatt

"Ich finde, dass Werkstätten für Menschen mit Behinderung einfach nicht mehr zeitgemäß sind. Viele der Tätigkeiten dort sind einfach nur Beschäftigungstherapie. In Werkstätten leisten Menschen gute Arbeit, aber bekommen nur ein mickriges Taschengeld und sind meist nicht eigenständig sozial- und pensionsversichert", erzählt David Tritscher, einer der Autoren des Magazins. Menschen in diesen Einrichtungen sind nicht angestellt, weil sie nicht als Arbeitnehmende gelten. Deswegen bekommen sie auch kein Urlaubs- und kein Weihnachtsgeld. Sollten sie nicht mehr in der Werkstätte arbeiten wollen, steht ihnen auch kein Arbeitslosengeld zu.

David Tritscher, der eine Seh- und Lernbehinderung hat, war selbst eine Zeitlang in einem Programm, das ihn auf eine Tageseinrichtung oder Werkstätte vorbereitete. Dort musste er drei Monate rostige Schrauben putzen. Tagein, tagaus. Nichts anderes. Der Sinn dahinter wurde ihm nicht vermittelt. "Ich fand das schrecklich. Ich war wütend, dass ich so eine vollkommen sinnlose und eintönig Arbeit machen musste", sagt Tritscher. "Jeder Mensch sollte das Recht haben, das zu machen, was ihn glücklich macht und zufriedenstellt und nicht in einer Werkstätte regelrecht abgestellt werden." Bei einem Recherchebesuch in einer solchen Werkstatt, erzählt Tritscher, überraschte ihn, dass die Betreiber dieser Einrichtung die Probleme durchaus erkannten. Ihnen seien aber oft aufgrund gesetzlicher Regelungen die Hände gebunden.

Unternehmen zahlen lieber Ausgleichstaxe

Zu diesem Ergebnis kamen die Journalistinnen, nachdem sie die Daten von 20.000 Arbeitgebern aus dem Jahr 2020 ausgewertet hatten. Wer zahlt lieber die Ausgleichstaxe, als Menschen mit Behinderung im Unternehmen anzustellen? Die Ausgleichstaxe richtet sich nach der Anzahl der Mitarbeitenden. Pro nicht besetzte Pflichtstelle müssen Unternehmen einen Betrag zwischen 292 und 435 Euro pro Monat bezahlen. Bei den Parteien stellen Grüne und ÖVP zu wenige Menschen mit Behinderungen ein. Auch die Landwirtschafts- und die Wirtschaftskammer erfüllen die gesetzliche Quote nicht.

Die Arbeiterkammer und der Gewerkschaftsbund übererfüllen ihre Pflicht. Bei den Hilfsorganisationen geht die Caritas mit gutem Bespiel voran. Die Volkshilfe, die Diakonie und das Hilfswerk hingegen hatten im Erhebungsjahr nicht genügend Menschen mit Behinderung angestellt. Auch viele der Universitäten erfüllen die Quote nicht. Spar, Lidl und Hofer schneiden ebenfalls nicht gut ab. Dafür geben sie viel Geld für die Hilfskampagne Licht ins Dunkel aus. Im Gegenzug für diese Spenden dürfen sie das zugehörige Siegel für Marketingzwecke verwenden.

Die "Dossier"-Redakteurin Sahel Zarinfard, die ebenfalls an der Auswertung der Daten beteiligt war, weist noch auf einen wichtigen Punkt hin: "Wir müssen uns bewusst machen, dass die Republik 2008 die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat und sich damit verpflichtet hat, die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu wahren. Das war vor 15 Jahren. Wenn wir uns jetzt anschauen, wie viel von dieser Konvention seither umgesetzt worden ist, dann ist es wirklich eine ganz traurige Bilanz. All diese Inklusionsmaßnahmen sind eben keine Zusatzleistungen, sondern sie sind ein Menschenrecht."

Vielleicht ist es (nochmals) an der Zeit, sich vor Augen zu führen, was diese 2008 von Österreich unterzeichnete UN-Konvention in Bezug auf Arbeit (Artikel 27) beinhaltet: Menschen mit Behinderungen haben das Recht, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Sie sollen gefördert werden, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Arbeitserfahrung zu sammeln. Ihnen soll gleiches Entgelts für gleichwertige Arbeit gezahlt werden. Und es sollen Aus- und Weiterbildungen ermöglicht werden. Im Artikel 24, der die Bildungsrechte festhält, steht weiter: "Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden." Das steht konträr zur momentanen Entwicklung der Sonderschulen in Österreich. Es gibt zwar Mechanismen, um die Umsetzung dieser UN-Konvention zu überwachen, (finanzielle) Strafen bei Nichteinhaltungen sind im Text allerdings nicht vorgesehen. Wir sind also weiterhin darauf angewiesen, dass Betroffene und Interessensverbände auf Nichteinhaltungen aufmerksam machen. (Natascha Ickert, 10.1.2024)