Milo Rau Festwochen
Festwochen-Chef Milo Rau sieht international das parlamentarische System bröckeln und will dagegenarbeiten.
Michiel Devijver

Mit Milo Rau hat ein sich zum politischen Theater bekennender Regisseur die Wiener Festwochen übernommen. Für einige nun erstmals verratene Programmpunkte der nächsten Ausgabe (17. Mai bis 23. Juni) startet jetzt der Vorverkauf.

STANDARD: Ihre Amtszeit könnte mit einer FPÖ-Regierungsbeteiligung zusammenfallen. Wie verhalten Sie sich dazu, als "linksradikaler Künstler", als den Sie sich in Ihrem neuen Buch "Die Rückeroberung der Zukunft" bezeichnen.

Rau: Heute gilt jeder, der aufgeschlossen ist und an das Gute glaubt, schon als "linksradikal". Und rundherum hat sich ein gewisser faschistischer Realismus durchgesetzt, der besagt, dass die anderen zuerst dran sind mit Sterben und in der Sonne verbrutzeln. Das ist eine rationale Einstellung nach dem Prinzip "Rette sich, wer kann". Das kann ich verstehen, aber man muss für kurze Zeit Nachteile in Kauf nehmen, um als Menschheit eine bessere Zukunft zu haben. Linksradikal heißt für mich also, dass ich in langfristigen Strukturen versuche zu denken. Aber das Problem ist das Handeln: Wir haben zwar das Wissen, aber als Bürgerinnen und Bürger keine Möglichkeit, außer die bekannten Parteien zu wählen, die dann nichts ändern. Die Grünen in Deutschland haben nicht einmal eine Geschwindigkeitsbegrenzung durchgekriegt. Das führt dazu, dass sich Menschen vom parlamentarischen System abwenden. Diese Entwicklung möchte ich als Theatermacher gerne aufhalten. Das parlamentarische System muss erhalten bleiben. Ich möchte nicht, dass die absolute Profitgier und Angst das Handeln von Staaten und Kontinenten bestimmen. Bolsonaro, Trump – das hat keine Zukunft. Österreich ist da noch erstaunlich stabil.

STANDARD: Vielleicht weil es kein ausgeprägtes Freiheitsstreben gibt?

Rau: Ja, keinen revolutionären Elan wie in Frankreich. Auch in Deutschland gibt es eine extreme Mainstreamisierung des politischen Denkens. Wenn man von Belgien nach Deutschland fährt, gibt es nach der Grenze plötzlich nur noch Israel-Support, vor der Grenze sind aber alle für Palästina – so als gäbe es nicht zwei Seiten, die beide genauso Opfer und Teil der Tragödie sind. Im Gespräch sagen alle, klar, es gibt zwei Seiten, aber sobald man den öffentlichen Raum betritt, werden die Dinge vereinfacht. Linkes Denken ist Denken in Strukturen, vielleicht auch in der etwas altertümlichen Hoffnung, dass die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der spirituellen, moralischen und politischen Befreiung ist.

STANDARD: Wollen Sie die Wiener Festwochen zu einem "Ort der Opposition" machen, wie Martin Kušej das für das Burgtheater proklamiert hat?

Rau: Klar sollten wir ein Leuchtturm des liberalen Denkens sein. Aber mehr noch als ein Repertoiretheater müssen wir als Festival Widersprüche, Absurditäten, faschistisches Denken zulassen und untersuchen. Das hat mich zumindest immer mehr interessiert, als etwa eine Ukraine- oder sonst eine Solidarity-Flagge aufzuhängen. Für mich ist Politik nicht Haltung, sondern ein Raum, in dem die irrsten Dinge zusammentreffen. In dem man sich fragt, ob es legitim ist, dass eine Person auftritt – und sich zugleich fragt, ob sie nicht vielleicht doch recht hat. Niemand hat die ganze Wahrheit, jeder hat nur einen Teil davon.

La clemenza di tito Milo Rau festwochen
Wird bei den Wiener Festwochen 2024 zu sehen sein: "La clemenza di Tito", inszeniert von Milo Rau.
Michiel Devijver

STANDARD: Ein zentraler Begriff Ihrer Arbeitsweise ist "Globaler Realismus". Was meinen Sie damit, und können Sie das am Beispiel Ihrer Operninszenierung von "La clemenza di Tito" veranschaulichen?

Rau: Globaler Realismus meint die Idee, den Safe Space, den wir uns hier in Europa geschaffen haben, aufzubrechen für eine globalere Sicht. Noch mal die deutsche Wirtschaft: National gesehen ist der Ausbau der Autoindustrie natürlich gut, aber global gesehen verheerend. Es geht darum, eine Beschreibungsfunktion für diese Diskrepanzen zu finden. Bei "La clemenza" gibt es eine Elite, die sehr tolerant ist. Aber jenseits von ihr findet die Katastrophe statt. Ein Vulkan bricht aus, das Kapitol wird gestürmt, aber die Oper behandelt das nicht. Ich kritisiere die Blindheit der Elite gegenüber der Realität ihrer Lebensweise. Die Elite hat sich einen Safe Space geschaffen, in dem die "clemenza", also Nachsicht und Milde, gilt. Anders gesagt: Je sensibler wir werden, umso brutaler wird das Leben für jene, die uns diese Sensibilität ermöglichen.

Opera Ballet Vlaanderen

STANDARD: Das thematisieren Sie auch in der Oper "Justice", die noch vor den Festwochen beim Festival Tangente in St. Pölten Premiere haben wird.

Rau: Premiere ist im Jänner in Genf. Der Reichtum der Schweiz beruht darauf, dass sie die größten Rohstofffirmen der Welt beherbergt, die dort Steuern zahlen. Zugleich gibt es das ärmste Land der Welt, den Ostkongo, der aber irre rohstoffreich ist. Das hängt miteinander zusammen. Eine wahre Geschichte muss immer beide Dinge gleichzeitig erzählen. In "La clemenza di Tito" produziert die Elite ständig engagierte Kunst in den besten Absichten, und ich frage mich selbstkritisch, ist die engagierte Kunst nicht nur eine Ersatzhandlung, damit die Revolution nicht stattfindet? Warum lässt sich ein König zwei Jahre nach der Revolution diese Oper schreiben? In ihr sind alle Ideale der Französischen Revolution aufgenommen, aber offenbar nur, um den Feudalismus zu bewahren.

STANDARD: Sie haben eine Ausschreibung für Komponistinnen gemacht. Was ist die Absicht?

Rau: Die Ausschreibung heißt "Akademie Zweite Moderne" und beruht auf der schockierenden Erkenntnis, dass nur zwei Prozent im Musikrepertoire von Komponistinnen kommen. Unsere Musikdramaturgin Jana Beckmann hat diese Zahl ermittelt. Was läuft da schief? Und ich merke: Man kann es nur ändern, indem man es ändert. Man sagt ja immer, der Markt reguliert sich selber, aber es zeigt sich, dass es nicht so ist. Diese zwei Prozent sind so offensichtlich ungerecht und unmodern, dass sich niemand diesem Argument widersetzen kann. Ich habe das Gefühl, dass Wien diese Veränderung braucht.

STANDARD: Werden die Kompositionen auch aufgeführt?

Rau: Ja. Diese "Akademie Zweite Moderne" ist auf fünf Jahre angelegt und basiert auf der Idee, dass Arnold Schönberg 50 Schülerinnen hatte, die aber anders als Alban Berg oder John Cage niemals Karriere gemacht haben. Es heißt "Zweite Moderne", weil die erste Moderne strukturell nicht stattgefunden hat. Die zweite, richtige Moderne kann nicht mehr rein männlich, nicht nur mitteleuropäisch und nicht rein elitär sein. Wir bauen ein Netzwerk an Koproduktionspartnern auf, vom Grand Théâtre de Genève über die Deutsche Oper bis zur Met in New York – da sind wir noch dran – und natürlich mit Wiener Häusern, die sich verpflichten, Komponistinnen zu beauftragen und zu programmieren. Die Überführung ins Standardrepertoire ist das Entscheidende.

STANDARD: Ihre Arbeit ist assoziiert mit außereuropäischen Handlungsräumen. Das hat Ihnen viel Kritik gebracht: neokolonial, exotisierend usw. Wie reagieren Sie darauf?

Rau: Wenn man sich aus den sicheren Räumen Westeuropas wegbewegt, landet man in Widersprüchen und Grausamkeiten, die leider real sind. Solidarität funktioniert nicht anders, sie ist konfliktuös. Deshalb hat mich die Landlosenbewegung in Brasilien so interessiert. Natürlich gibt es das Problem der Exotisierung, aber Solidarität funktioniert nicht anders, als sich eben zu treffen, zusammenzuschließen, über alle Unterschiede hinweg. Das scheitert auch, das ist widersprüchlich, oft schmerzhaft. Es gibt im Globalen Realismus aber keine Alternative, als in Mossul eine Filmschule aufzubauen – und irakischen Filmemacherinnen damit Chancen und Distributionswege zu eröffnen. Wir müssen uns aus unseren Salons hinausbewegen und uns anfechtbar machen. Wenn man mich also kritisiert als exotisierendes Arschloch, dann würde ich sagen, das ist ein bisschen zynisch. Denn wir müssen schauen, was der Preis unserer Lebensweise ist. Wir müssen hinausgehen, um von den Menschen zu lernen, denn in unseren Salons hier gibt es nichts mehr zu lernen.

STANDARD: Inwiefern soll Osteuropa, wie Sie angekündigt haben, ein Schwerpunkt im Programm werden?

Rau: Wien ist ein Ort mit Nähe zum Osten, und verblüffenderweise sehe ich, wie wenige Stimmen aus Osteuropa hier vorkommen. Und damit liegt Wien genau im Zentrum unserer ultrawidersprüchlichen europäischen Geschichte. Während man sich im Westen noch Illusionen hingibt, hat Österreich andere Erfahrungen gemacht mit dem Zerfall des Imperiums, mit der Nähe zum Kommunismus, den man scheitern sah.

STANDARD: Wien hat viele Bühnen, viel Tanz, die Performanceszene ist gut entwickelt. In welche Lücke wollen Sie da noch stoßen?

Rau: Ein Festival ist immer anders als ein Haus, wir stellen andere Grundsatzfragen. Etwa was ist das Nichteingelöste der Moderne? Da hat man innerhalb eines Festivals andere Freiheiten, das zu machen. Insbesondere mit dem Musiktheaterboden hier. Während Avignon oder die Ruhrtriennale außerhalb des Festivals ja als Orte kultureller Auseinandersetzung nicht existieren, spielt es sich hier in Wien die ganze Zeit ab. Ich kann hier auf vorgefundene Kräfte reagieren. In Wien steckt viel Energie drin. Und es wundert mich, warum Wien international nicht eine noch größere Marke ist – etwa im Vergleich zum Glanz von Berlin.

STANDARD: Sie werden in Anlehnung an ihr Genter Manifest auch eines für Wien formulieren. Gibt es schon nennenswerte Punkte?

Rau: Die Festwochen 2024 werden Festwochen der Transformation, deshalb können wir das Manifest erst am Ende der ersten Ausgabe veröffentlichen. Wien ist auch widersprüchlicher als Gent. Aber eine Frage wird sich mit Quoten beschäftigen. Quoten sind ein Instrument, um Institutionen zu verändern. Also wie stellen wir uns zu Quoten? Sagen wir zwei Prozent Komponistinnen im Repertoire sind genug, oder sagen wir 20 oder 50 Prozent? Oder sagen wir gar nichts? Eine andere Frage betrifft die Ethik im Umgang mit Boykottbewegungen und politischer Programmierung. Dürfen russische Künstlerinnen und Künstler auftreten, auch wenn sie das eigene Land nicht kritisieren? Heute wird sichtbar: Wir betreiben Politik allein durch Einladungen. Ob es eine Frau oder ein Mann ist, ein Russe oder eine Israelin. Auch Nachhaltigkeit ist ein Punkt im Manifest.

STANDARD: Welchen Platz nehmen Florentina Holzinger und Christiane Jatahy in Ihrem Programm ein?

Rau: Sie sind jene, die uns zeigen, was passiert, wenn wir die Moderne (Hindemiths Oper "Sancta Susanna") oder Klassiker ("Hamlet") feministisch lesen. Was passiert, wenn Hamlet 2024 als Frau aufwacht. Wir wollen uns die Zeit geben, den "Hamlet" neu zu schreiben. Das ist wichtig, denn die Institutionen preschen hirnlos voran. Sie stemmen dreißig oder mehr Premieren pro Jahr, damit die Auslastung stimmt. Da braucht es eine Kulturpolitik, aber auch Medien – damit adressiere ich Ihre Zunft –, die nicht immer sofort schreien, die Ränge sind leer. Sondern die darauf hinweisen, dass es ein Transformationsprozess ist. Sonst verschwenden wir die tollsten Ideen. (Interview: Margarete Affenzeller, 7.12.2023)