Schüler übt schreiben
Schulische Leistung auf dem Prüfstand: Nicht alle stellen ein so positives Zeugnis aus wie Minister Polaschek.
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Die Interpretation des Bildungsministers fiel gewagt aus. Als "durchaus erfreulich" qualifizierte Martin Polaschek (ÖVP) die Ergebnisse der jüngsten Pisa-Studie. Immerhin hatten sich die schulischen Leistungen in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften im Zuge der Corona-Pandemie hierzulande weniger verschlechtert, als dies im Schnitt der Industriestaaten der Fall war.

Dabei haben die Autoren von der OECD Österreich in einem wichtigen Punkt einmal mehr ein schlechtes Zeugnis ausgestellt: Die Chancengleichheit ist laut der Erhebung besonders gering ausgeprägt. Wer in der Schule wie gut abschneidet, hängt stark von der Herkunft ab.

Sozial abgehängt

Das gilt in zweierlei Hinsicht. Ein Faktor ist das soziale Umfeld: Je höher Bildungsniveau, berufliche Stellung und Wohlstand der Eltern, desto besser steigen die Kinder aus. Die Vorteile reichen vom Geld für Nachhilfe bis zur Verfügbarkeit von Büchern. Österreich zählt zu jenen Ländern, in denen 15- und 16-Jährige mit niedrigem Sozialstatus leistungsmäßig besonders weit hinterherhinken, hält auch das vom Bildungsministerium geführte Institut für Qualitätssicherung in seiner Ergebnisanalyse fest (siehe Wissen). Im Vergleich zum Pisa-Test 2018 ist die soziale Schere vor allem in Naturwissenschaft und Lesen weiter aufgegangen.

Der zweite Faktor ist der Migrationshintergrund. Sind beide Elternteile im Ausland geboren, schlägt sich das im Schnitt negativ in der Leistung nieder – und auch hier ist die Differenz in Österreich größer als im Gros der anderen OECD-Staaten. Ein entscheidendes Handicap sind naturgemäß fehlende Sprachkenntnisse. In vielen Familien greifen aber beide Kriterien ineinander.

Für einen seriösen Vergleich ist anzumerken: Ein besonders hoher Migrantenanteil wie in Österreich bringt größere Herausforderungen mit sich. Es macht einen Unterschied, ob in einer Klasse 20 Prozent eine andere Muttersprache haben oder 80 Prozent. Allerdings beweise das Einwanderungsland Kanada, argumentiert OECD-Bildungsexperte Francesco Avvisati, dass sich Migrationshintergrund nicht in schlechteren Chancen niederschlagen muss.

Eine Rolle spielen können noch andere Umstände wie die kulturelle Prägung der Zuwanderer oder die Sprache im Zielland. Zumindest beim Lesen tun sich Migrantenkids mit Englisch womöglich leichter als mit Deutsch – wobei man wieder auf Kanada verweisen könnte.

Ohne Eltern läuft nichts

Doch bei aller Einordnung des internationalen Vergleichs erkennen Fachleute viele hausgemachte Gründe für das Nachzüglerproblem. "Das Bildungssystem schafft es nicht, die Startschwierigkeiten auszugleichen", urteilt der Migrationsforscher Bernhard Perchinig. Von der "Vererbung" der Bildungschancen spricht der Soziologe Kenan Güngör: "Die Schulen bewerten nicht nur die Leistungen der Kinder, sondern auch der Eltern."

Eine Wurzel des Übels erkennen die beiden in der Fixierung auf die Halbtagsschule. Erfolg setze oftmals den Einsatz der Väter und Mütter voraus, sagt Güngör, "viele werden am Nachmittag zu Zweitlehrern, die mit ihren Kindern büffeln". Ganztagsschulen seien das Gebot der Stunde, um den benachteiligten Schülerinnen und Schülern bessere Unterstützung zu bieten.

Noch eine heimische Eigenart steht im Fokus der Kritiker: Statt die Schwächeren von den Stärkeren lernen zu lassen, werden Kinder nach der Volksschule in Gymnasiasten und Mittelschüler aufgeteilt. Doch anders als bei der Ganztagsschule, für die auch Polaschek plädiert, scheint ein politischer Konsens für eine Gesamtschule undenkbar.

Eine andere Idee existiert zumindest schon als von der Regierung gestartetes Pilotprojekt für 100 sogenannte Brennpunktschulen: Die Ressourcen müssten gezielten nach sozialen Kriterien auf die Schulen verteilt werden, empfiehlt Perchinig. An Standorten mit hohem Migrationsanteil brauche es mehr Lehrer und anderes Personal.

Überfordert – oder ignorant?

Außerdem sollten die Kinder früher ins Bildungssystem geholt werden – indem etwa der Kindergarten bereits ab dem Alter von vier statt wie bisher fünf Jahren verpflichtend wird, schlägt Perchinig vor. Derzeit bleibe es zu sehr an den Schulen hängen, diverse Startnachteile auszugleichen.

Aber sind nicht auch, wie Minister Polaschek sagt, die Eltern in die Pflicht zu nehmen? Es sei wichtig, die Familien für Probleme zu sensibilisieren, sagt Güngör – damit etwa nicht den ganzen Tag der Fernseher laufe. Doch wenn damit gemeint sei, die Verantwortung auf die Väter und Mütter abzuwälzen, werde sich das Problem noch eher verschärfen. Neben jenen Eltern, die zwar Einsatz zeigen, aber überfordert sind, gebe es zweifellos auch solche, die der Bildungserfolg der Kinder schlichtweg nicht interessiert, so Güngör: "Doch meiner Einschätzung nach wird die Größe dieser Gruppe überschätzt." (Gerald John, 7.12.2023)