Ukrainische Soldaten bereiten sich mit angespannter Miene auf einen Einsatz vor.
An der ukrainischen Front geht die Entwicklung immer mehr in Richtung Stellungs- und Zermürbungskrieg. Die groß angekündigte Gegenoffensive führte in den vergangenen Monaten nicht zu den gewünschten Ergebnissen.
TYLER HICKS/The NewYorkTimes/Red

Schon zum zweiten Mal durchlebt die von Russland vor fast zwei Jahren überfallene Ukraine einen Winter im Krieg. Wie schon im vergangenen Jahr versucht Moskau auch heuer wieder, die ohnehin erschöpfte Bevölkerung mittels gezielter Luftangriffe auf die Energieinfrastruktur zu demoralisieren. Auch wenn offizielle Statistiken weiten Teilen der Bevölkerung noch immer eine hohe Motivation ausweisen, die russischen Invasoren militärisch zu besiegen, hinterlässt der hohe Blutzoll unter den ukrainischen Soldaten und Zivilistinnen tiefe Narben im Land. Aber auch im Westen, der seit zwei Monaten nun schon verstärkt auf das Kriegsgebiet im Nahen Osten blickt, anstatt weiter auf die Ukraine zu fokussieren, verlieren manche die Geduld. DER STANDARD blickt nach Kiew, Moskau, Washington und Brüssel.

Kiew: Das Vertrauen sinkt

Es ist der zweite Kriegswinter, der in der Ukraine anbricht – und damit eine neue Phase des Kriegs, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj vor kurzem in einem Interview. Nach der groß angekündigten Gegenoffensive, die ihm zufolge mangels Waffen und Bodentruppen nicht zu den gewünschten Ergebnissen führte, werde der Winter die Kämpfe nun weiter erschweren. Trotz der Rückschläge werde die Ukraine aber auch nach einundzwanzig Monaten russischer Invasion nicht aufgeben, sagte Selenskyj. Der Krieg im Donbass jährt sich im Frühjahr bereits zum zehnten Mal.

Im kommenden Jahr will die Ukraine rund 44 Milliarden Euro für Verteidigung und Sicherheit ausgeben. Den Demonstrierenden, die sich seit Ende September jeden Samstag in der Kiewer Innenstadt versammeln, reicht das allerdings nicht. "Im Jahr 2022 glaubte jeder, dass der Krieg nicht lange dauern würde, und wir haben nicht sehr darauf geachtet, wie die Regierung das Geld ausgibt, das wir mit unseren Steuern bezahlen", sagt Miroslaw Hawryschtschuk, der 36-jährige Mitorganisator der Demonstration. "Jetzt haben wir gemerkt, dass der Krieg leider sehr lange dauert, unser Feind sehr stark ist."

Laut einer aktuellen Umfrage des internationalen Instituts für Soziologie in Kiew sank die Zahl derjenigen, die glauben, dass sich die Dinge in der Ukraine in die richtige Richtung entwickeln, zwischen Mai 2022 und Oktober 2023 von 68 auf 60 Prozent. Das größte Vertrauen genießen laut der Befragung die Streitkräfte mit 94 und die Freiwilligen mit 87 Prozent. Ein Rückgang des Vertrauens ist bei den Institutionen zu beobachten: 76 Prozent gaben an, dem Präsidenten zu vertrauen (zuvor: 91 Prozent). Bei der Regierung sank die Zahl von 74 auf 39 Prozent, beim Parlament von 58 auf 21 Prozent. Die Initiativgruppe, die laut eigenen Angaben keiner politischen Partei angehört, fordert, dass etwa der Kiewer Stadtrat die von ihr bereitgestellten Mittel für die Unterstützung der Verteidigungskräfte oder die Ausrüstung von Rehabilitationszentren und medizinischen Einrichtungen für verwundete Soldaten aufwendet.

An der von Kiew weit entfernten Front tobt laut Beobachtern inzwischen eine Art Stellungs- und Zermürbungskrieg. Zwar gibt es auf der anderen Seite noch immer niemanden, mit dem man verhandeln könne, wie die Protestierenden in Kiew sagen. Doch an die Stelle eines verbreiteten Optimismus sei bei vielen eine Art Realismus getreten.

Moskau: "Wann endet der Krieg?"

Mittlerweile wünscht man einander in Russland einen "friedlichen Himmel über dem Kopf". "Wir hoffen, dass das alles endet", sagt Nikolai, ein junger Lehrer in der russischen Provinz, dem STANDARD. Nikolai bringt die Stimmung vieler auf den Punkt. Am 14. Dezember können die Menschen ihrem Präsidenten Wladimir Putin Fragen stellen. Der direkte Draht heißt der TV-Event. Laut einer aktuellen Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada würden 21 Prozent der Russen diese Frage stellen: Wann wird der Krieg enden?

Im Winter ist auch aus russischer Sicht ein Stellungskrieg entstanden. Größere Geländegewinne sind für beide Seiten nicht möglich, militärisch scheint Russland leicht im Vorteil.

Russlands Präsident Wladimir Putin beim Handshake mit dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman.
Russlands Präsident Wladimir Putin beim Handshake mit dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman.
AFP/POOL/ALEXEY NIKOLSKY

Bis dato haben die westlichen Sanktionen die russische Wirtschaft nicht in die Knie gezwungen. Die russische Armee hat ausreichend Munition, auch dank des Deals mit Nordkorea. Hightech-Waffen, wie etwa Raketen, produziert die Rüstungsindustrie in großer Stückzahl. Westliche Mikrochips dafür kommen über Drittstaaten ins Land. Mitte der Woche reiste Putin in die Vereinigten Arabischen Emirate und nach Saudi-Arabien. Die Ölförderstaaten haben gemeinsame Interessen, und Putin, der am Freitag seine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2024 bekanntgab, konnte sich wieder einmal im Glanz internationaler Aufmerksamkeit sonnen. Und: Die russische Armee hat viele Tausend neuer Soldaten angeworben. Hohe Gehälter werden geboten. Es komme darauf an, "unsere Ziele zu erreichen", zitiert die Zeitung Kommersant Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. "Und natürlich würden wir dies am liebsten vor allem mit politischen und diplomatischen Mitteln tun." Allerdings: Auf die annektierten Gebiete in der Ukraine wird Russland wohl kaum verzichten.

Washington: Showdown um Hilfen

In den USA, dem größten Waffenlieferanten der angegriffenen Ukraine, ticken die Uhren dieser Tage lauter als gewöhnlich – so laut, dass sie bis Kiew zu hören sind. Andrij Jermak, der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros, warnte am Mittwoch eindringlich vor einem Stopp der US-Finanzhilfen für sein Land: Versiege der Geldfluss, könnte die Ukraine den Krieg schon bald verlieren, sagte er. Am Donnerstag gab es im US-Senat trotzdem ein Nein: Das 110,5 Milliarden Dollar schwere neue Hilfspaket für Israel und die Ukraine fiel bei der Abstimmung wie erwartet durch, neben den Republikanern stimmte auch der linke Demokrat Bernie Sanders dagegen – nicht wegen der Ukraine freilich, sondern wegen der "unmenschlichen Militärstrategie" Israels, das ebenfalls Geld erhalten sollte, in Gaza.

Seit Wochen blockieren aber vor allem die Republikaner im Kongress die Freigabe neuer US-Hilfen für die Ukraine, deren Gegenoffensive bisher hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist. Die bewilligten Mittel für die Ukraine werden nach Angaben der Regierung in Washington zum Jahresende komplett aufgebraucht sein. Shalanda Young, Chefin des US-Haushaltsamts, hatte sich zu Beginn der Woche mit einem Appell an die Spitzen der beiden Kongresskammern gewandt: Wenn diese nicht bald handelten, könne das Weiße Haus schon zu Neujahr keine weiteren Waffen und keine Ausrüstung für die Ukraine beschaffen.

Dass der Hut brennt, machte am Donnerstag auch Präsident Joe Biden persönlich deutlich. Vor der Abstimmung sagte er: "Machen Sie keinen Fehler, die heutige Abstimmung wird lange in Erinnerung bleiben. Die Geschichte wird ein hartes Urteil fällen ... Wir können nicht zulassen, dass Putin gewinnt." In elf Monaten wird ein neuer Präsident gewählt: Weil dieser Donald Trump heißen könnte, ist für Kiew Zeit mehr denn je Geld.

Brüssel: Orbán gegen Kiew

Je länger jenseits des Atlantiks die Streitereien über die Finanzhilfen für Kiew andauern, desto greller fällt das Schlaglicht auf die EU. Zwischen August und Oktober haben die 27 EU-Länder insgesamt 780 Millionen Euro für schwere Waffen zugesagt, umgerechnet 500 Millionen Euro waren es von den USA. Zieht sich Washington aus dem Konflikt zurück, ist es an den Europäerinnen und Europäern, Kiew buchstäblich das Überleben zu sichern. Doch diese zögern, allen voran der große Geldgeber Deutschland.

Ohnehin ist die Großzügigkeit des Westens zuletzt deutlich gesunken, wie das deutsche Institut für Weltwirtschaft (ifw) am Donnerstag berichtete. Auch politisch tun sich Risse auf. Ungarns rechtsnationaler Premierminister Viktor Orbán dürfte kommende Woche sein Veto gegen den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen mit Kiew einlegen. Der niederländische Wahlsieger Geert Wilders, ebenfalls ein Rechtspopulist, hat sich gegen Waffenlieferungen ausgesprochen. Der neue Regierungschef der Slowakei, Robert Fico, stoppte gleich, als eine seiner ersten Maßnahmen, die Militärhilfe für das Nachbarland. Macht das Beispiel Schule, steht die Ukraine bald allein da. (Jo Angerer aus Moskau, Florian Niederndorfer, Daniela Prugger aus Kiew, 9.12.2023)