Volksoper
Während Kanzler Kurt Schuschnigg Reden hält, ahnen die jüdischen Ensemblemitglieder der Wiener Volksoper nicht, dass sie bald Bedrohungen ausgesetzt sein werden.
VOLKSOPER WIEN/BARBARA PALFFY

Die bedrückenden Film- und Tondokumente sind wohlbekannt: Das monströse Gebrüll vom 15. März 1938, mit dem ein gescheiterter Maler am überfüllten Heldenplatz "den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich" verkündet, erschallt in der Volksoper ebenso wie die "Gott schütze Österreich"-Rede des austrofaschistischen Kanzlers Kurt Schuschnigg. Es sind historische Interventionen, die hier zeigen, welche politische Realität zu jener "Anschluss"-Zeit, also 1938, in eine Probenphase an der Volksoper eindrang.

Das am Donnerstag uraufgeführte Stück Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938 handelt insofern vom Verhältnis von Politik und Kunst. Konkret wird das Thema allerdings eindringlich anhand des Schicksals jüdischer Künstler und Künstlerinnen, welche Teil des Volksopern­ensembles waren und – solange es ging – Jara Beneš’ Operette Gruß und Kuss aus der Wachau probten.

Das Stück erhellt dabei: Das Aufeinanderprallen einer heilen Musikwelt mit der immer antisemitischer sich gebärdenden politischen Realität zeitigt individuelle Reaktionen. Da tauchen manche in Nazi-Uniform zur Probe auf, von denen es Intendant Alexander Kowalewski (markant Marco Di Sapia) nicht erwartet hätte, der bald wegen seiner jüdischen Herkunft abgesetzt wird. Der Regisseur der Wachau-Operette Kurt Hesky (eindringlich Jakob Semotan) wiederum will trotzig weiter ausschließlich Kunst statt Politik machen. Nach und nach resigniert auch Hesky, der im realen Leben nach Brasilien flüchten konnte, ob der Unmöglichkeit seines Vorsatzes. Er muss hilflos ertragen, wie auch Hauptdarstellerin Hulda Gerin (Johanna Arrouas) aus der Produktion geschmissen wird.

Volksoper
Das Aufeinanderprallen einer heilen Musikwelt mit der immer antisemitischer sich gebärdenden politischen Realität zeitigt individuelle Reaktionen. Da tauchen manche in Nazi-Uniform zur Probe auf.
VOLKSOPER WIEN/BARBARA PALFFY

Zwischen Idylle und Realität

Der Abend basiert auf der 2018 erschienenen Recherche Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt von Marie-Theres Arnbom (Amalthea-Verlag). Regisseur und Autor Theu Boer­mans hat davon ausgehend Lass uns die Welt vergessen, ein zwischen Operettenseligkeit und Politdüsternis changierendes Stück, behutsam zu einem eindringlichen Exempel der Erinnerungskultur geformt – mit durchaus direkten Stilmitteln. Der Hauptreiz des Stückes:

Boermans lässt Stilebenen auf­einanderprallen, wodurch die Kon­traste zwischen Idylle und Realität dramaturgisch Wirkung entfalten. Ansätze von Heiterkeit werden provoziert, um effektvoll-abrupt unterbunden zu werden. Zum einen mündet die konfliktbeladene Proben­situation in fidele Operettenszenen, bis die Kitschwelt durch den Besuch etwa eines von den Nazis bestellten neuen Intendanten brutal unterbrochen wird. Eine weitere Stilebene – wohl die eindringlichste – zeigt auf einem Podest eine Art Collage privater Szenen aller zentral Beteiligten.

Atmosphärische Verdichtung

Der Leiter der NS-Betriebszelle und Werkmeister Walter Schödel (Nicolaus Hagg) freut sich nach dem "Anschluss" mit seiner Frau, bald eine größere Wohnung oder gar eine Villa beziehen zu können. Es würde ja bald einiges frei. Der aus der Volksoper vertriebene jüdische Sänger Viktor Flemming (Ben Connor), der im realen Leben in Auschwitz ermordet wurde, wird parallel dazu an der Grenze verhaftet. Auch ist zu ­sehen, wie Hugo Wiener für Mutter und Schwester kein Visum bekommt und Librettist Fritz Löhner-Beda ­gewarnt wird, als Jude besser das Land zu verlassen. Er, der sich entschließt, in Wien zu bleiben, wird im wahren Leben nach Buchenwald deportiert und später in Auschwitz erschlagen.

Das Ganze wird ergänzt durch stille Szenen zwischen zwei fiktiven Figuren. Es staunt der Bühnenmeister (Gerhard Ernst) melancholisch über die Widerwärtigkeit der Ereignisse und plaudert mit dem jüdischen Souffleur Ossip Rosental (An­dreas Patton), der sich später erhängen wird.

Volksoper
Das am Donnerstag uraufgeführte Stück "Lass uns die Welt" vergessen – Volksoper 1938 handelt insofern vom Verhältnis von Politik und Kunst.
VOLKSOPER WIEN/BARBARA PALFFY

Zur atmosphärischen Verdichtung trägt die Musikbearbeitung bei. Dirigentin Keren Kagarlitsky hat die seligen Operettenklänge, die nur als Klavierauszug existierten, orchestriert. Dazu implantierte sie eigene Ideen und Bekanntes aus der Historie.

Arnold Schönbergs spätromantische Verklärte Nacht breitete ihre süß brennende und verzweifelt ausschlagende Schwermut ebenso beklemmend aus wie der trauer­marsch­artige dritte Satz aus Mahlers erster Symphonie, in dem eine stilisierte Klezmermelodie auftritt.

Gruselige Heiterkeit

Zudem war das Intermezzo aus Viktor Ullmanns Oper Der Kaiser von Atlantis zu hören, das er in Theresienstadt komponierte, bevor er in Auschwitz umgebracht wurde.

Mit dem Volksopernorchester wird jedweder Stil profund umgesetzt; auch am Schluss, wenn die Heiterkeit gruselig wird: Fritz Köchl, der neue Nazi-Intendant (Alex Herrig), begrüßt den "Volkskanzler" Arthur Seyß-Inquart zu einem "heiteren deutschen Theaterabend", während in Bogotá Hugo Wiener (Florian Carove) Im Prater blüh’n wieder die Bäume anstimmt.

Es gab Standing Ovations. Das Stück sollte im ganzen Schönberg-Jahr 2024, im Jahr eines Vertriebenen, im Programm bleiben. (Ljubiša Tošić, 15.12.2023)