Für Lehrer Christoph Weltin (55) spielt es keine Rolle, weswegen ein Jugendlicher in U-Haft sitzt. Trotz allem sei dieser ein Schüler, der sich als Person wahrgenommen fühlen muss, sagt er.
DER STANDARD / Tomaselli

Kurz vor Mittag wird es in der Klasse laut. Drei Schüler senken den Blick auf ihre Aufgabenhefte. Vor ihnen steht Lehrer Christoph Weltin und wiederholt den Stoff des Vormittags, Thema ist der menschliche Körper. Ehe er zur Hand des Skeletts greift, schallt eine Stimme aus dem Innenhof herauf.

"Hey Hassan! Hassan!" (Name geändert, Anm.) Weltin setzt unbeirrt fort – wie der Störenfried zwei Stockwerke weiter unten. "Das ist das übliche Spiel", sagt Weltin und signalisiert den Burschen, darunter Hassan, mit einer schnellen Handbewegung, dass sie still sein sollen. Weltin schleicht durch die Klasse, schaut durch die Jalousien des Fensters, öffnet es leise.

"Ha!", ruft er runter. Die Burschen fangen an zu kichern. Nach einem weiteren Versuch lässt es der Schreihals bleiben.

Weltin unterrichtet momentan drei Burschen zwischen 14 und 16 Jahren in allen Fächern. Lässt man den Blick durch seine Klasse schweifen, so könnte diese eigentlich überall sein: eine große Tafel, Schulbänke, klassische Holzstühle, eine verzierte Wand mit gemalten Bildern – von Flaggen über Herzen bis hin zu abstrakten Figuren. Das Einzige, das den Ort verrät und die Klassenidylle für Außenstehende trübt: die vergitterten Fenster.

Denn Weltins Klasse ist wohl eine der abgeschottetsten Österreichs – und seine drei kichernden Schüler sind U-Häftlinge. Hier in Wien-Josefstadt kommen straffällig gewordene Jugendliche in Untersuchungshaft und verbüßen teilweise kurze Haftstrafen. Weibliche Jugendliche kommen in eine Abteilung des Frauenvollzugs. Insgesamt sind laut Jugenddepartment durchschnittlich 20 bis 22 Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren untergebracht, etwa jeder Siebente davon ist noch schulpflichtig. Für diese Buben ist Weltin jeden Vormittag da.

Als Lehrer im Gefängnis arbeiten? Auch für den einzigen Pflichtschullehrer in der Justizanstalt Josefstadt war das – wohl auch ob der Exotik – kein Beruf, den er zunächst auf dem Radar hatte. Ein Anruf vor zehn Jahren änderte das. "Die Dienstaufsicht fragte mich damals, weil der Vorgänger in Pension ging", erzählt Weltin. Zu jenem Zeitpunkt war er Lehrer an einer Wiener Sonderschule. Was den Anstoß zum Wechsel gab? "Da kann man was machen, dachte ich mir."

Angepasste Kleinkriminelle

Diese Bemerkung passt zum Erscheinungsbild des 55-Jährigen: kräftige Statur, weißes T-Shirt, Tribal-Tattoos am Oberarm, markante Lachfalten um die Augen. Weltin wirkt wie ein hemdsärmeliger Typ, dessen fordernde und zugleich lockere Art bei Jugendlichen ankommen dürfte. Und der mit gängigen Klischees über junge Insassen brechen will. "Die Gesellschaft nimmt sie zum Teil zu Recht als Kriminelle wahr. Hier im Gefängnis können sie aber die angepasstesten Insassen sein", sagt der Lehrer.

Was die Jugendlichen grundsätzlich in die Justizanstalt bringt, sind laut dem Jugenddepartment am häufigsten Delikte im Bereich Diebstahl und Körperverletzung. Was diesen Delikten tiefer zugrunde liegt, lässt sich nicht so leicht benennen. "Problemfelder können der familiäre Hintergrund, falsche Freunde und persönliche Risikofaktoren sein, etwa Gewalterfahrung oder psychische Erkrankungen", sagt Weltin und betont, dass es sich hier nur um Wahrscheinlichkeiten handle. Zu den Fällen seiner Schüler will sich Weltin nicht äußern. Weil ein Gespräch mit ihnen vonseiten des Ministeriums nicht genehmigt wurde, hat DER STANDARD stattdessen anonyme Fragebögen an die Schüler ausgeteilt (siehe Infokasten).

Für Weltin als Lehrer ist der Draht zu seinen Schülern entscheidend. Denn seiner Erfahrung nach würden diese nicht lernen, weil sie die Fächer spannend fänden. "Sie wollen mir als Lehrer damit einen Gefallen tun. Und das nütze ich aus." Wie es ihm gelingt, zu den Jugendlichen durchzudringen, klingt dabei so banal wie durchdacht. "Es geht nur mit Ehrlichkeit. Entscheidend ist, dass sie sich als Personen wahrgenommen fühlen. Ich für meinen Teil muss ihnen klare Strukturen geben und Konsequenzen aufzeigen." Doch kann man einem Schüler unvoreingenommen begegnen, wenn man weiß, wozu er fähig ist? "Das kann ich gut trennen", sagt Weltin und fügt hinzu: "Er ist ja trotz allem ein Schüler." Das betreffe aber letztlich jede Berufsgruppe in der Justizanstalt – von Sozialarbeitern bis hin zu Wachebeamtinnen. Die gute Zusammenarbeit mit dieser Kollegenschaft sei jedenfalls eine wichtige Stütze für ihn.

Mit Blick auf Israels Krieg gegen die Hamas spielt das Thema Radikalisierung bei seinen Schülern überraschenderweise keine große Rolle. "Noch", meint Weltin und fügt hinzu: "Ich bin mir sicher, dass das angesichts der derzeitigen Umstände verstärkt auf uns zukommen wird." Auf das Thema angesprochen, will sich auch die Josefstadt laut Jugenddepartment-Leiter Severo Orsi wappnen – mittels multikultureller Workshops, die gerade in Ausarbeitung seien.

Aber es gibt auch andere Dinge, die Lehrer Weltin nach zehn Jahren noch als herausfordernd bezeichnet. Zum Beispiel, wenn er einen Schüler mit Förderbedarf und einen aus der HTL vor sich habe, die fachlich völlig andere Ansprüche stellen. Oder wenn es zu plötzlichen Unterbrechungen durch Anwälte oder die Polizei kommt, die ihn daran erinnern, dass seine Klasse eben doch ein bisschen anders ist.

Ständiger Schülerwechsel

Und dann gibt es noch den "Sisyphus-Effekt": Sobald eine arbeitsfähige Beziehung mit einem Schüler da ist, wird er wieder entlassen – oder muss in die Justizanstalt für Jugendliche nach Gerasdorf wechseln, wenn er eine längere Haftstrafe ausgefasst hat. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen.

Oder ein Wiederkommen. Denn bei Jugendlichen ist die Wiederverurteilungsquote im Vergleich zu anderen Altersgruppen in Österreich am höchsten. "Das ist leider die Realität, daher muss man versuchen, das Beste daraus zu machen." Umgemünzt bedeutet das für ihn als Lehrer: "Wenn ich nur allein seinen Pflichtschulabschluss oder die Tatsache, dass er nie wiederkommt, als Messlatte für meinen Erfolg sehe, dann würde ich scheitern."

Doch was kann Schule in einem Gefangenen denn bewirken? "Ein Erfolg kann sein, dass er gerne in die Schule geht, dass er sinnerfassend lesen kann. Oder aber auch ein besseres Verständnis für den Körper bekommt", sagt Weltin. Die Schule hier sei jedenfalls die notwendige Verbindung nach außen in die Realität. Und an diese Realität draußen dürfte sich auch das Bild eines Schülers richten. Darauf steht: "Schau, wie ich bin. Nicht, wie ich war." (Elisa Tomaselli, 20.12.2023)