Andreas Liebl ist Seelsorger in der Innsbrucker Haftanstalt.
Andreas Liebl

Wie bittet man sein Opfer um Entschuldigung? Was sagt man zu jemandem, den man überfallen hat? Was schreibt man jemandem, dessen Angehörige man getötet hat? Hilfe dabei, Briefe an Verbrechensopfer und deren Familie, Freundinnen und Freunde zu verfassen: Das gehört zu Andreas Liebls Job.

Seit elf Jahren ist Liebl katholischer Gefängnisseelsorger in der Justizanstalt Innsbruck – und solche Situationen sind ihm nicht fremd. Er unterstützt Gefangene oft über Monate dabei, die passenden Worte zu finden – und mehr. "Meine Motivation ist es, für Menschen da zu sein, die sonst niemanden haben. In solch einer Ausnahmesituation wäre, denke ich, jeder froh, wenn es jemanden gibt, der aufmerksam zuhört." Nach der Kündigung seines Vorgängers hat die Diözese Innsbruck zunächst lange Zeit nach einem geeigneten Nachfolger gesucht – bis Liebl schließlich durch den Hinweis eines Berufskollegen von der Ausschreibung erfahren hat. Oft geht der gebürtige Bayer mit dem Gefühl nach Hause, etwas im Leben eines Häftlings bewirkt zu haben. Dennoch ist es ihm wichtig zu betonen: "Spaß macht die ganze Sache nicht."

Beten als seelische Entlastung

Fixe Arbeitszeiten oder einen typischen Arbeitsalltag gibt es für den Seelsorger nicht. Lediglich das Teammeeting mit Sozialarbeitern und Psychologen am Montag ist ein Fixpunkt in der Arbeitswoche. In der Gefängniskapelle wird zudem wöchentlich eine Andacht gefeiert. Für den Gottesdienst können sich die Häftlinge – genauso wie für Einzelgespräche mit dem Seelsorger – schriftlich anmelden. "Bevor Insassen am Gottesdienst teilnehmen dürfen, wird sichergestellt, dass keine Komplizen gemeinsam kommen", erklärt Liebl. Direkt vor dem Gottesdienst müssen alle durch eine Sicherheitsschleuse.

Was Liebl besonders wertschätzt: Einmal im Monat gestaltet eine Abordnung der Tiroler Militärmusik, ein Gospelchor aus Wilten oder eine freikirchliche Musikgruppe die Andacht. "Musik als universelle Sprache kann in Gefangenen, die kein oder nur wenig Deutsch verstehen, sehr viel auslösen. Häufig sind das Augenblicke, in denen sie endlich auch Emotionen zulassen können. Weihrauch wiederum riecht für viele nach zu Hause." Doch auch gemeinsames Beten kann den Gefangenen helfen: "Den meisten Häftlingen bedeutet Religion jenseits der Gefängnismauern nicht sonderlich viel. Im Gefängnis ist es aber oft das Einzige, was ihnen bleibt. Beten ist für viele eine seelische Entlastung. Es kann dem Häftling sehr viel Druck nehmen."

Für Einzelgespräche gibt es in der Haftanstalt Gesprächszimmer. Durchschnittlich führt Liebl 30 Gespräche pro Woche. Die Dauer kann von wenigen Minuten bis hin zu mehreren Stunden variieren. Liebl unterliegt dabei einer Schweigepflicht. "Im Gegensatz zu Psychologen muss ich nichts beurteilen und auch keine Diagnosen stellen. Die Häftlinge können ihre Bedürfnisse dadurch sehr frei äußern." Er habe sehr viel "Respekt und Ehrfurcht davor, wenn sich die Häftlinge mir gegenüber öffnen". Es gebe oft Momente, in denen er "auf einer theologischen und spirituellen Ebene sehr viel von ihnen lerne". Bevor ein Häftling mit dem Seelsorger reden darf, wird geprüft, ob er ihm gefährlich werden könnte.

Nicht nur Hendldiebe

Aktuell verfügt die Justizanstalt Innsbruck über rund 475 Haftplätze. Alle Personen, die in Tirol verhaftet werden, kommen zunächst in diese Haftanstalt – männliche, weibliche und jugendliche Insassen. Auch verfügt die Justizanstalt Innsbruck über eine eigene Abteilung für suchtkranke Häftlinge. In der Regel werden hier Freiheitsstrafen vollzogen, die 18 Monate nicht übersteigen. Die "schweren Fälle" kommen nach der rechtskräftigen Verurteilung in andere Strafanstalten des Landes. "Dass hier nur Hendldiebe ihre Strafe verbüßen, stimmt also nur bedingt", sagt Liebl.

Mehr als die Hälfte aller inhaftierten Personen in Österreich sind ausländische Staatsangehörige – auch in Innsbruck. Durchschnittlich treffen 40 Nationen und zehn religiöse Konfessionen aufeinander. Für österreichische Haftanstalten ist ein Seelsorger gesetzlich vorgeschrieben. "Die Seelsorge ist vor allem von einem interreligiösen Dialog und ökumenischen Denken geprägt." Das Seelsorgeteam besteht aus zwölf Personen. Der Großteil der Inhaftierten bekennt sich zum katholischen Glauben, dicht gefolgt von orthodoxen Christen und Muslimen. Liebl ist als Koordinator grundsätzlich für alle Gefangenen zuständig. Die Insassen können sich auch wünschen, mit einem Seelsorger ihrer Konfession zu sprechen. Kein Häftling ist wie der andere: "Ich denke, es dürfte jedem klar sein, dass man einen ägyptischen IS-Rückkehrer nicht mit einem bosnischen Kleinkriminellen vergleichen kann."

Die Mauern der Justizanstalt Innsbruck sehen alle, die in Tirol verhaftet werden, von innen. In der Regel werden hier Freiheitsstrafen vollzogen, die 18 Monate nicht übersteigen.
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Berührende Metaphern

Neben Gesprächen zählt auch das Verteilen von Bibeln und Kirchenzeitungen oder die Firmvorbereitung zu seinen Aufgaben: "Ich kann mich an einen Häftling mit Drogenvergangenheit erinnern, der sich zur Firmfeier eine Lesung aus dem Buch Exodus gewünscht hat. Der Pharao war dabei eine Metapher für die Drogen. Der Weg durch das Rote Meer war für ihn die Hoffnung, dass es auf der anderen Seite besser wird. Das fand ich sehr berührend." Es gibt aber auch unangenehme Pflichten, etwa Gefangene über Trauerfälle in der Familie zu informieren oder Häftlinge im Todesfall einzusegnen. Auch für die Seelsorge der Justizbeamten ist der Theologe zuständig: "Diese Menschen übernehmen viel zu oft die psychiatrische Pflege der Häftlinge, obwohl sie dafür gar nicht vorgesehen, geschweige denn ausgebildet sind."

Abgesehen von Schuld und Verzeihen spielt im Leben der Häftlinge vor allem das Thema Einsamkeit eine große Rolle – obwohl nur ein geringer Prozentsatz von ihnen in Einzelhaft untergebracht ist. "Mit bis zu vier Mithäftlingen in einer Zelle führt das Fehlen von Privatsphäre häufig zu einer Art inneren Einsamkeit. Wer möchte schon seine tiefsten Gedanken mit anderen Insassen teilen", sagt Liebl. Umso wichtiger ist es ihm, den Häftlingen das Gefühl zu geben, dass jemand an sie denkt: "Wenn regelmäßige Gottesdienstbesucher auf einmal nicht mehr kommen, schaue ich nach ihnen. Dann wissen sie, dass es jemandem auffällt, wenn sie fehlen." Die Einsamkeit der Häftlinge endet jedoch meist nicht hinter dem Gefängnistor. Viele Kontakte gehen in der Haft verloren. "Speziell bei sexuellen Delikten betrifft es häufig auch die Angehörigen des Täters. Da wird plötzlich die ganze Familie gemieden – vor allem in dörflichen Strukturen. Selbst wenn sich der Tatverdacht nicht erhärtet, bleibt ein lebenslanges Stigma bestehen."

Singen als Ausgleich

Neben seiner Tätigkeit als Gefängnisseelsorger arbeitet Liebl als Religionslehrer in einer Berufsschule. Manche Themen überschneiden sich – gerade bei den jungen Gefangenen: "Das Thema Drogen ist etwa in beiden Bereichen omnipräsent." Einige Schüler trifft Liebl später als Häftlinge wieder. "Glücklicherweise gibt es auch Gegenbeispiele, und ehemalige Häftlinge werden zu Schülern", erzählt er. "Ich würde es emotional nicht packen, jeden Tag im Gefängnis zu sein, da ist die Arbeit in der Berufsschule eine willkommene Abwechslung. Privat singe ich im Kirchenchor Absam. Das ist der perfekte Ausgleich für mich."

Wie lange Andreas Liebl noch als Gefängnisseelsorger arbeiten will? "Sobald man die Empathie verliert, muss man sicherlich die Reißleine ziehen und einer anderen Tätigkeit nachgehen", sagt er. Denn: "Wer emotional abgegrenzt durch ein Gefängnis läuft, ist in meinen Augen fehl am Platz." (Anna Tratter, 20.7.2023)