Wiener Informatiker Peter Reichl
Der Homo faber war gestern, heute geht es um den Homo cyber und seine Zukunft. Der Wiener Informatiker Peter Reichl erkundet in seinem neuen Buch die Digitalisierung der Welt.
Wolfgang Wolak

Er hat in der Schule Altgriechisch gelernt und bereut es bis heute nicht. Weltweit begleitet er Konzertsänger auf dem Klavier. Er wirft mit Zitaten von Kierkegaard und Günther Anders um sich und denkt voller Sorge über Unbildung nach. Das sind keine Eigenschaften, die auf einen Computerwissenschafter schließen lassen, doch Peter Reichl ist einer. Derzeit unterrichtet er technische Grundlagen der Informatik an der Universität Wien.

Fan von Wortspielen

Reichl ist ein Freund und Weggefährte von Douglas Hofstadter, dem Autor von Gödel, Escher, Bach – einem Buch, das Geschichte machte. Wie Hofstadter schreckt er vor keinem Wortspiel zurück. Er bezeichnet sein neuestes Buch als "Bericht aus Digitalien" und betitelt es Homo cyber, in Anlehnung an den Roman Homo faber von Max Frisch. "Faber" heißt ja "schaffend", und "cyber" leitet sich vom griechischen Wort für "steuern" her. Mit "homo" ist, versteht sich, das generische Maskulinum gemeint.

Doch wohin steuert dieser neue Mensch? Es fällt uns schwer, den rechten Kurs zu finden in der Cyberwelt, die wir uns errichtet haben: der virtuellen Welt, vulgo Internet. Das ist das Thema des Peter Reichl. Es ist, wenn man es recht bedenkt, das Schicksalsthema unserer Zeit und bewegt zahllose Köpfe in der Philosophie, der Soziologie und den Bildungswissenschaften. Da tut es gut, wenn auch Informatiker ihre Besorgnisse artikulieren.

Grant auf die Behörde

So hält Peter Reichl etwa fest, dass die Digitalisierung von Behördenwegen, die doch auf den ersten Blick so fortschrittlich und bürgernah erscheint, durchaus zweischneidig ist. Denn dadurch werden Institutionen virtuell – also weniger persönlich und somit weniger real. Es findet keine Begegnung statt. Wenn man sich ärgert, kann man Beamte nicht einmal mehr Trottel schimpfen. Ebenso verzichtet man beim elektronischen Wählen auf ein wichtiges Ritual, nämlich den Gang zum Wahllokal, gemeinsam mit anderen Stimmberechtigten. Es geht bei Wahlen ja nicht nur um die Messung von Prozentzahlen, sondern auch um eine Bindungszeremonie.

Mit großer Skepsis blickt Peter Reichl auf diesen Verlust an Leiblichkeit. Es handelt sich um eine Selbstentleibung, gewissermaßen, denn wir verbringen ja aus freien Stücken zunehmend mehr Zeit im Internet. Außerdem tut sich dieser virtuelle Raum ja nicht von selbst auf, sondern wird von Informatikern geschaffen, und das oft mit den besten Absichten. Reichl zitiert beifällig das Credo von Kollegen aus der Wiener TU: "Der Mensch lebt nicht vom Bit allein." Und doch wird unsere Diät immer Bit-lastiger.

Buchcover
Peter Reichl, "Homo cyber. Ein Bericht aus Digitalien". € 19,– / 176 Seiten. Müry Salzmann, Salzburg/Wien 2023.
Müry Salzmann

Humanere Digitalisierung

Peter Reichl will eine menschlichere Digitalisierung. Er ist ein stimmstarker und sinnenfroher Bayer, der gerne singt (Schubert und so) und sich stur weigert, ein Smartphone zu besitzen (wie geht das überhaupt?). Was diesem Experten der Computertechnologie hingegen besondere Freude bereitet, sind die mechanischen Rechenmaschinen, mit ihren Zahnrädern und Stellschrauben – mit ihrer Leiblichkeit eben. Die Philosophen Pascal und Leibniz haben hier wahre Wunderwerke geschaffen, doch Reichls Geschichte geht darüber hinaus.

Am Anfang steht eine Maschine von Wilhelm Schickard, die heuer 400 Jahre alt geworden wäre, wenn nicht ein Brand sie vernichtet hätte (wir wissen von ihr nur durch einen Brief an Johannes Kepler). Am Ende steht die Curta, eine bezaubernde kleine Rechenmaschine, die aussieht wie eine Pfeffermühle und von Curt Herzstark im KZ Buchenwald entwickelt wurde. In den Nachkriegsjahren trat sie ihren Siegeszug an. Abgelöst wurde sie erst um 1970 durch elektronische Taschenrechner. Man hört Reichl regelrecht seufzen. Das Ding war so herrlich handlich.

Chatgpt OpenAI
Was birgt die ChatGPT-Zukunft von Entwicklerfirma OpenAI?
AP/Michael Dwyer

Doch Reichls wichtigstes Anliegen ist die antikopernikanische Revolution. Zur Erklärung: Die Wissenschaft scheint es darauf abzusehen, das Selbstwertgefühl des Menschen zu kränken. Die Sonne kreist nicht um uns herum (Kopernikus); wir sind nicht die Krone der Schöpfung (Darwin); nicht einmal unser eigenes Bewusstsein tut, was wir wollen (Freud); und jetzt ist es so weit, dass sich Geräte für unsereins ausgeben können, siehe ChatGPT. Das sind lauter Beleidigungen. Schluss damit. Es ist Zeit für die antikopernikanische Wende!

Mensch oder Maschine

Tatsächlich scheint die wirkliche, sinnliche Welt hinterrücks zu verschwinden. Wir lesen einen Text und wissen nicht, ob der Autor ein Mensch ist. Wir telefonieren mit einer Bank und fragen uns, ob die Stimme am anderen Ende KI-generiert ist. Wir sehen ein erschütterndes Bild und vermuten sofort, dass es gefakt ist. Bald werden die meisten Hausaufgaben von ChatGPT geschrieben. Da wird groß über die Abschaffung der Matura diskutiert – doch das ist ein Mailüfterl im Vergleich zum Tsunami, mit dem die Cyberwelt über alle gängigen Ideen von Bildung hinwegfegt.

Wir können Mensch und Chatbot bald nicht mehr auseinanderhalten. Und wie zum Hohn verlangen manche Internetseiten von uns, dass wir – WIR! – uns als Menschen ausweisen, bevor sie mit uns weiterreden: Wir müssen ein Captcha ausfüllen (Completely automated Turing test to tell computers and humans apart). Das sind lauter Unverschämtheiten. Höchste Zeit für die antikopernikanische Wende!

Ich glaube allerdings nicht, dass sie gelingen wird. Hoffentlich sagt das nur etwas aus über mein Alter. Vielleicht schafft es die Menschheit, sich nicht selbst abzuschaffen. Das Buch von Peter Reichl ist jedenfalls ein herzerfrischendes Plädoyer für mehr Verantwortung und kommt aus dem richtigen Eck. (Karl Sigmund, 7.1.2024)