Joan Baez war als Sängerin und Bürgerrechtsaktivistin bei den Selma-nach-Montgomery-Märschen ebenso dabei wie beim Marsch auf Washington 1963, bei dem Martin Luther King seine berühmte Rede I Have a Dream hielt. Selbst schon eine Berühmtheit, holte sie Anfang der 1960er-Jahre den noch nicht ganz so bekannten Bob Dylan auf die Bühne, mit dem sie, auch privat liiert, für eine kurze, aber ikonische Zeit als "Queen and King of Folk Music" gefeiert wurde. Als unverbrüchliche Pazifistin engagierte sich Baez gegen den Vietnamkrieg und wetterte später gegen Donald Trump. Mit ihrem glockenhellen Sopran wurde sie von der "Godmother of Punk" Patti Smith auf die Bühne geholt, aber auch von Pop-Superstar Taylor Swift. 2018 und 2019 verabschiedete sich Baez mit einer letzten Tournee von der Bühne, die sie auch nach Wien führte.

Während diese außergewöhnliche Vita wohl bekannt ist, fokussiert die neue Dokumentation Joan Baez – I Am a Noise, zu sehen ab 28. Dezember im Kino, auf bislang unbekannte und zutiefst private Aspekte aus Baez' Leben. Die Tochter eines Physikers mit mexikanischen Wurzeln und einer Schottin stellte den Filmemacherinnen Miri Navasky, Karen O'Connor und Maeve O'Boyle das Archiv der Eltern mitsamt Briefen und Aufzeichnungen von Therapiesitzungen zur Verfügung. Im Film zur Sprache kommen nicht nur Panikattacken und das schwierige Verhältnis zu den Schwestern, sondern es steht auch der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs durch den Vater im Raum. In der Dokumentation wie im STANDARD-Interview legt Baez eine bemerkenswerte Offenheit und humorvolle Gelassenheit an den Tag, selbst wenn es um schmerzvolle Kapitel ihrer Vergangenheit geht.

Joan Baez in
Hat für die Dokumentation "I Am a Noise" das Privatarchiv ihrer Mutter geöffnet: Joan Baez.
Alamode-Film

STANDARD: Patti Smith ist eine der ausführenden Produzentinnen von I Am a Noise. Wie kam es dazu?

Baez: Ganz einfach. Sie sagte, ich tue alles, um dir zu helfen, damit der Film rauskommt und gewürdigt wird. In die Herstellung war sie nicht involviert.

STANDARD: Sie sind mehrmals mit Smith zusammen aufgetreten. Ist sie eine Seelenverwandte?

Baez: Absolut! Ich fühle mich geehrt, dass ich das sagen kann, weil sie hat Geist, Herz und Intelligenz – eine Kombination, die man nicht oft findet.

STANDARD: Die Konzerte Ihrer Abschiedstour verleihen dem Film seine Struktur. Vermissen Sie es, live mit Ihrer Musik aufzutreten?

Baez: Nein. Die Frage ist richtig gestellt, weil ich vermisse es nicht, aufzutreten oder 2.000 Leute vor mir zu sehen. Ich vermisse die Freunde im Bus.

STANDARD: Am Beginn des Films sorgen sie sich um ihre Stimme und arbeiten mit einer Stimmtrainerin. Dabei könnte man sagen, was ihre Stimme an Umfang verloren hat, hat sie an Autorität gewonnen.

Baez: Ich würde es lieben, in dem Ausmaß wie früher aufzutreten und zu singen – wenn es mir leichtfallen würde. Aber die Stimme verschlechtert sich mit der Zeit, und wenn ich nicht mit ihr arbeite, geht das noch schneller. Was ich noch habe, ist voll von Seele mit einem solchen Umfang (zeigt mit ihren Handflächen eine kleine Distanz), und was ich gewöhnt war, war so (breitet die Arme weit aus).

Magnolia Pictures & Magnet Releasing

STANDARD: Frühere Dokumentationen haben sich auf Ihre Karriere konzentriert, während es in I Am a Noise mehr um Ihr Privatleben geht. War das so geplant?

Baez: Es war der Plan von Anfang an. Ich will ein ehrliches Vermächtnis hinterlassen, kein hübsches. Ich will die Wahrheit meines Lebens teilen. Die tiefergehenden Angelegenheiten, das Drama, das man sieht, kamen später. Wir hatten damit begonnen, den Film über die Abschiedstour zu machen und darüber, wovon sie begleitet wurde, also meine Kindheit, meine Familie.

Die Entscheidung, das Archiv meiner Mutter für den Film zur Verfügung zu stellen oder nicht, lag bei mir. Ansonsten hatte ich keine Entscheidungsgewalt während des ganzen Films. Auf irgendeine Art bin ich sehr froh darüber, weil wenn ich einen Zensor gehabt hätte, der entscheidet, was reinkommt, was weniger schmerzvoll ist für mich, hätte der Film nicht funktioniert. Der Film ist, was er ist, weil ich genügend Vertrauen in diese Frauen hatte, um zu sagen: Macht mal!

STANDARD: Waren Sie selbst überrascht, was im Archiv zum Vorschein kam?

Baez: Ja, das war ich. Als die drei Filmemacherinnen den Lagerraum betraten, war es auch für mich das erste Mal, dass ich reinging. Meine Mutter hob alles auf, wirklich alles. Es gab viele Dinge, die ich nicht gesehen hatte, derer ich mir nicht bewusst war oder die ich die letzten 50 Jahre oder länger nicht gesehen hatte. Ich war froh über diese Perspektive meiner Kindheit. Sie macht den Film wirklicher.

Dinge, die mich überrascht haben, waren etwa, wie verheerend ein großer Teil der Kindheit meines Sohnes Gabe war. Weil wenn ich dachte, dass ich dar war, war ich in Wirklichkeit gar nicht da. Ich schaue zurück auf meine frühe Kindheit und verstehe, warum es mir schwerfiel, für viele Sachen anwesend zu sein. Das verringert nicht das Bedauern, dass ich nicht mehr Zeit mit ihm verbracht habe.

Und ich bedaure, dass meine Eltern keine Erinnerung daran hatten, was passiert ist. Man neigt dazu, sie zu beschuldigen, und natürlich machen wir das. Dann kommt man drauf, dass sie sich nicht besser an das erinnern, was passiert ist, als ich selbst. Es waren nicht nur meine Eltern, es waren mehr Leute. Wir gehen mit dem Film da nicht rein, weil es für die Menschen zu viel wäre, damit zurechtzukommen.

STANDARD: Der Film zeichnet ein sehr komplexes Bild Ihrer Eltern. Auf der eine Seite ist klar, das Ihr Interesse für Pazifismus von den Eltern kommt, auf der anderen Seite gibt es die Frage nach sexuellem Missbrauch in der Familie. Es gibt keine definitive Antwort im Film, die Frage scheint offen.

Baez: In einem Sinn ist sie das, in einem anderen Sinn ist sie das nicht für mich. Aber es ist nur angemessen, es in der Öffentlichkeit offen zu lassen, weil für meine Eltern war es eine Geschichte, für mich eine andere, für sonst Involvierte war es wieder eine andere. Im Film sage ich, ich bin schlau genug, um zu wissen, dass ich einen Teil dessen, was ich erinnere, erfunden habe, ein anderer Teil waren Erinnerungen, Eindrücke. Aber wenn 20 Prozent dessen, was ich erinnere, wahr sind, dann genügt es, um abzurechnen. Und jetzt sage ich, wenn zwei Prozent davon wahr sind, genügt es.

STANDARD: Begann der Prozess der Aufarbeitung mit dem Film oder schon vorher?

Baez: Ich war 50, als dieser Prozess begann, es ist also Jahre her.

STANDARD: Wollten Sie auch andere Menschen im Umgang mit solchen Erfahrungen ermutigen?

Baez: Absolut. Wir waren uns nicht bewusst, wie tiefgreifend die Reaktionen auf meine Öffnung gegenüber solchen Themen sein würden. Die Reaktion, die wir bekamen, war, dass es vielen Leuten ermöglicht hat, sich Gedanken zu erlauben, vor denen sie Angst hatten. Es muss kein großes Drama sein, aber es geht um Themen, die uns verletzen, die uns in unserem Leben und unserer Arbeit stoppen. Wir haben oft gesehen, dass jemand sagt: "Oh, wir hatten dies und das", und sie können jetzt damit besser umgehen. Das ist wunderbar.

STANDARD: Sie sprechen im Film auch über Panikattacken. Möglicherweise hilft das auch anderen?

Baez: Ich habe nur mehr Schatten davon, aber nichts in der Art, was ich all die Jahre durchgemacht habe. Das soll Menschen ermutigen. Ich habe mir einmal gedacht, dass Therapie einem erleichtert, um das Problem herumzugehen, darunter und darüber – und so war es. Es war hilfreich. Aber was den großen Wandel gebracht hat, war, die tieferliegenden Probleme anzupacken. Ich würde das den Menschen empfehlen.

Joan Baez
Joan Baez machte schon als Kind Erfahrungen mit Rassismus.
AP/Albert Baez

STANDARD: Ein Problem, das Sie im Film auch erwähnen, sind Ihre Erfahrungen mit Rassismus als Kind.

Baez: Das war vor allem in Südkalifornien, wo die meisten Arbeiter, die Orangen pflückten, aus Mexiko kamen. Sie hatten nicht viel Bildung und wurden nicht anständig behandelt. Bei mir war man sich nicht sicher, ob ich Mexikanerin bin oder weiß.

STANDARD: Ein Eindruck, den Sie im Film vermitteln, ist, dass Sie Frieden mit Ihrer Vergangenheit gemacht haben.

Baez: Ja, das stimmt. Sogar noch mehr als im Film. Es sind weitere fünf Jahre vergangen, seit vieles davon aufgenommen wurde. Und die Veränderungen waren alle positiv, stärkend. Es gibt mehr Klarheit, mehr Spaß, mehr Gegenwart. Gleichzeitig mit der Kreativität, die explodiert ist, seit ich aufgehört habe zu touren, geht es ständig bergauf, wie ich mich in meinen Leben und meiner Haut fühle.

STANDARD: Einer der witzigsten Momente im Film ist, wenn man ein Dylan-Porträt über Ihrem Klavier hängen sieht. Haben Sie mit ihm auch Frieden geschlossen?

Baez: Ich liebe es, diese Geschichte zu erzählen, weil sie am Ende all dieser Jahre voller Groll und schlechter Gefühle passiert ist. Vor einigen Jahren habe ich ein Porträt von ihm gemalt, auf dem er jung ist. Ich legte seine Musik auf und begann zu weinen. Dieser Prozess dauerte eine lange Zeit, ich ging hindurch und wusch alles hinweg, alles Ressentiments, die auch nicht mehr zurückgekommen sind. Das ist eine große Gabe. Es geht vor allem um die Dankbarkeit, dass er da war, dass wir uns trafen, dass ich seine Songs hatte, dass wir eine Beziehung hatten, all das. Heute schaue ich zurück und denke, wie toll das alles war. Ich bin glücklich damit.

US-Autor James Baldwin (links), Joan Baez und Bürgerrechtler James Forman bei den Selma-nach-Montgomery-Märschen 1965.
US-Autor James Baldwin (links), Joan Baez und Bürgerrechtler James Forman bei den Selma-nach-Montgomery-Märschen 1965.
Matt Heron - Alamode-Film

STANDARD: Sie haben eine lange Geschichte im Aktivismus und Pazifismus und waren politisch sehr engagiert. Wie geht es Ihnen heute, wenn Sie an den Krieg in der Ukraine denken, an Israel und die Hamas?

Baez: Mir geht es wie jedem anderen, es ist nicht leicht, damit umzugehen. Es ist völlig überwältigend. Die Situation, in die sich die USA gebracht haben, hätte man sich nicht erträumen können. Selbst eine Gruppe Verrückter oder Comedians hätte dieses Szenario nicht erfinden können, in dem wir jetzt stecken – und das sind nur die Vereinigten Staaten. Und dann gibt es diese herzzerreißenden Szenarien jenseits des Atlantiks. Das Erste, das mir einfällt, das mir eine Richtung gibt, ist etwas, das ich vor kurzem gehört habe: Einem Kommandanten ganz oben im Militär in Israel und einem Autor in Gaza hat es in ihren Positionen gereicht, und sie haben sich angefreundet und begonnen, sozialen Wandel zu studieren und Gewaltlosigkeit. Wenn sie das dort tun können, dann können wir sicher etwas finden, was wir hier tun können. (Karl Gedlicka, 27.12.2023)