Das abgelaufene Jahr war wahrlich kein friedliches. Der zerstörerische Krieg Russlands gegen die Ukraine ging weiter und die Hamas startete mit einem unentschuldbaren und grausamen Angriff gegen Israel einen neuen Krieg beziehungsweise das Wiederaufleben immer wieder aufflammender kriegerischer Auseinandersetzung. Für beide Kriege besteht zu Beginn des neuen Jahres kaum Aussicht auf ein Ende – jedenfalls auf keine dauerhafte Lösung.

Gewinnt Russland?

Manchmal hoffte der "Westen", dass sich mit einer erfolgreichen Offensive der ukrainischen Armee im Jahr 2023 das Blatt zugunsten der Ukraine wenden würde und Russland zu einem Waffenstillstand gezwungen werden könnte. Aber die Offensive blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Und zu Beginn des neuen Jahres muss man Angst haben, dass die Unterstützung für die Ukraine ebenfalls hinter den gehegten Erwartungen zurückbleibt. Zwar wurde in der EU bei der Ratstagung im Dezember mühsam erreicht, dass mit der Ukraine Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden, aber das war ein Pyrrhussieg, denn der ungarische Premier Victor Orbán hat unmittelbar darauf eine weitere finanzielle Unterstützung für die Ukraine blockiert.

Protest, Schilder mit Aufschrift
Wie kann eine Forderung nach Frieden in der Ukraine im Jahr 2024 aussehen?
imago images/ULMER Pressebildage

Überdies wurde in der Slowakei ein populistischer Politiker zum Regierungschef gewählt, der ebenfalls die Unterstützung der Ukraine kritisch sieht. Und auch der Wahlsieger in den Niederlanden hat eine ähnliche Einstellung. Und in den USA blockieren die Republikaner im Kongress die Unterstützung für die Ukraine. Und 2024 könnte Trump wieder gewählt werden – mit seiner "America first"- und damit "Ukraine last"-Politik.

Manche mögen einwenden, dass die ausbleibenden Hilfen zum Frieden führen würden. Aber dies ist zu bezweifeln. Das Auslaufen der westlichen Hilfe mag zu einer Kapitulation der Ukraine führen und unmittelbar zum Ende des gegenwärtigen Krieges. Aber was kommt danach? Sieht Russland dann nicht in der nachgelassenen Hilfe der Ukraine eine Einladung, weitere aggressive Schritte zu unternehmen? Vielleicht nicht unmittelbar gegen einen Nato-Staat, aber Moldawien wäre sicherlich das nächste Opfer. Und hinsichtlich Georgiens würde das ohnehin schon unterwürfige politische System, das vom russischfreundlichen Oligarchen und ehemaligen Präsidenten Bidsina Ivanishvili gelenkt wird, noch stärker von Putin unter Druck gesetzt werden.

Konsequenzen eines russischen Siegs

Und was würde China von der ukrainischen Kapitulation lernen? Sicher würde es erkennen, dass die westlichen Unterstützungszusagen auf tönernen Füßen stehen: Der demokratische Westen würde es nicht aushalten "Opfer" zu bringen – und seien es auch nur finanzielle. Populistische Parteien würden mit dem Appell, die eigenen Interessen in den Vordergrund zu rücken, Wahlsiege erzielen. Und so könnte auch China seine Interessen im Südchinesischen Meer mit Gewalt durchsetzen. Vor allem wäre Taiwan das Ziel einer gewaltsamen Wiedervereinigung. Das würde die Machtverhältnisse in Asien verschieben. Überdies könnte auch Nordkorea auf die Idee kommen, eine – gewaltsame – Wiedervereinigung zu versuchen.

Das sind alles keine zwangsläufig, aus einem Sieg von Russland resultierende Folgewirkungen, aber sie sind zumindest mögliche Konsequenzen, die im Jahr 2024 und in den Jahren danach noch mehr kriegerische Auseinandersetzungen bringen könnten. Und es wäre fatal, den Kopf in den Sand zu stecken und diese Gefahren nicht zu sehen. Der Rückzug der Amerikaner und einiger Europäer von unsinnigen und zum Teil völkerrechtswidrigen Abenteuern ist zu begrüßen. Aber das sollte nicht zu einem Freibrief für andere Mächte führen, ihrerseits mit Gewalt ihre politischen Interessen durchzusetzen.

Wir müssen leider anerkennen, dass die Gewalt, die in den letzten Jahren ausgeübt wurde, Fakten geschafft hat, die nicht so leicht aus der Welt zu schaffen sind – auch nicht mit Waffeneinsatz. Dennoch darf der Westen auch diplomatisch nicht untätig bleiben. Mit aller Kraft und mithilfe der Länder des Globalen Südens innerhalb der Vereinten Nationen sollte ein Kompromiss gefunden werden, der den Weg zu einem Ende des Krieges in der Ukraine aufweist. Ein Friedensschluss ist sicher erst in der Ära nach Putin möglich – und auch das nur sehr schwer. Zu sehr haben sich die Ukraine und Russland auseinander gelebt – gerade durch die russische Aggression. Aber in der Zwischenzeit gilt es vorübergehende Regelungen zu finden, die den Menschen ermöglichen, ohne dauernde Angst vor Bomben zu leben. Aber das wird nicht ohne schmerzliche Kompromisse – vor allem für die Ukraine – gehen. Darüber sollte es im Jahr 2024 in der Ukraine selbst und im Westen eine Verständigung geben.

Und wieder Krieg im Nahen Osten

Anders gelagert ist die Situation im Nahen Osten. Aber auch dort ist das Konfliktpotential noch nicht ausgereizt. Der brutale Anschlag der Hamas hat eine Spirale der Gewalt in Gang gesetzt beziehungsweise in neue Dimensionen gebracht, die eine Ausweitung der kriegerischen Auseinandersetzungen bewirken können. Noch sind die militärischen Operationen mit Iran-freundlichen Gruppierungen im Libanon, in Syrien, im Irak und im Jemen unterhalb der kriegerischen Reizschwelle. Aber je länger die Bombardierungen im Gazastreifen dauern und je mehr sie zivile Opfer bringen, desto mehr besteht die Gefahr einer Ausweitung der kriegerischen Auseinandersetzungen.

Immer mehr gibt es aber auch von den Unterstützern Israels Kritik an einer Politik der Bombardierungen ohne einer Absicht – jedenfalls der jetzigen Regierung –, die Ursachen des Konflikts zu "lösen". Premierminister Netanjahu und sein Verteidigungsminister sprechen auch nur davon, die Sicherheitsverantwortung im Gazastreifen zu übernehmen, aber es gibt keine Absicht, auch für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Sorge zu tragen. Hinzu kommt, dass extreme Siedler in Israel selbst immer aggressiver gegen Palästinenser vorgehen, sie aus deren Häuser vertreiben und ihre Lebensgrundlage zerstören. Und das wiederum hat gemäß mehrerer Meinungsumfragen die Popularität der Hamas in diesen Gebieten deutlich erhöht – sogar stärker als in Gaza. Besteht da überhaupt die Chance, dass sich Israel und die Palästinenser auf einen dauerhaften Waffenstillstand und einen Weg zum Frieden verständigen? Dazu gibt es entgegengesetzte Ansichten.

Einerseits bekommt vor allem im Westen die alte Idee der Zweistaatenlösung, die ja auch im Beschluss der Vereinten Nationen von 1947 gefordert wird, einen neuen Auftrieb. Ungeachtet der Schwierigkeiten, einen palästinensischen Staat aus sehr verstreuten und nicht zusammenhängenden Gebieten zu formen, muss es nach Ansicht aller ernstzunehmenden Expert:innen zu einer schrittweisen Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts auch dieses Volks kommen – will man nicht entweder dauerhafte gewaltsame Auseinandersetzungen akzeptieren oder anderseits die utopische Idee eines gemeinsamen Staates für etwa gleich viel Jüd:innen und Araber:innen verfolgen.

Anerkennung des Leids von beiden Seiten

Allerdings verweisen auch jüdische Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen, die gegenüber Netanyahu und den rechts-religiösen Kräften eine äußert kritische Haltung einnehmen, auf den Schock, den die Hamas-Attacken in Israel ausgelöst haben. So meinte die israelische Soziologin Eva Illouz unmittelbar nach dem Anschlag der Hamas: "Dieses Trauma wird die politische Kultur Israels wahrscheinlich auf unumkehrbare Weise verändern. Israel wird nicht mehr sein, was es bis zum 7. Oktober gewesen ist." In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob angesichts dieses Traumas eine Bereitschaft besteht beziehungsweise hergestellt werden kann, mit den Palästinensern ein neues Verhältnis des Zusammenlebens beziehungsweise der Nachbarschaft zu gestalten. Schon die bisherigen unterschiedlichen Traumata von Holocaust und Nakba haben das verhindert. Aber ohne Anerkennung des Leids, das die jeweils andere Seite erfahren hat – so unterschiedlich es im Ausmaß und in der Herkunft ist –, kann es ein friedliches Zusammenleben nicht geben.

2024 kann realistischerweise kein Jahr eines Friedensschlusses zwischen Israel und den Palästinenser werden. Aber Israel müsste erkennen, dass eine weitere Bombardierung keine Lösung darstellt. Israel muss erkennen, was Andreas Ernst kürzlich in der NZZ ausdrückte: "Wenn es Bomben hagelt, klammern sich die Wehrlosen an jene, die Waffen tragen." Und das gilt auch für diejenigen, die sich gegen die Vertreibung durch radikale Siedler nicht wehren können.

Auf der anderen Seite müssen radikale und extremistische Palästinenser und ihre Freunde im Iran auf ihre Vernichtungsfantasien verzichten. Im Nahen Osten selbst muss der Wille entwickelt werden, die Region in eine Union des friedlichen Zusammenlebens zu verwandeln. Und da sind vor allem jene Araber gefragt, die sich nicht mehr allein auf ihren Öl- und Gasreichtum verlassen wollen, sondern an einem wirtschaftlich und sozial fortschrittlichen Nahen Osten interessiert sind. Aber von ihnen zu erwarten, dass sie das Palästina-Problem alleine lösen, ist illusorisch. Weder werden sie die Palästinenser bei sich aufnehmen, noch werden sie sich veranlasst sehen, Gaza wieder aufzubauen.

Dennoch, so kritisch wir im Westen den Mangel an Demokratie und Meinungsfreiheit in den arabischen Ländern dieser Region sehen, so sehr ist zu hoffen, dass sie an der Entwicklung eines friedlichen Nahen Osten interessiert sind. Es war ein großer Fehler, bei den Vereinbarungen zwischen Israel und einigen arabischen Ländern – den sogenannten Abraham Abkommen – die Palästina-Frage zu missachten. Jetzt besteht die Chance eines Neuanfangs, jedenfalls dann, wenn Israel eine neue und weitsichtigere Regierung bekommen sollte. Wenn das 2024 der Fall ist, dann könnte dieses Jahr der Beginn einer neuen friedlichen Phase im Nahen Osten einleiten.

Europa und die Kriege

Die beiden hier behandelten Kriege sind für uns in Europa von besonderer Bedeutung. Der Ukraine-Krieg betrifft uns unmittelbar und die Europäische Union ist durch finanzielle und militärische Unterstützung indirekt beteiligt. Der Krieg im Nahen Osten betrifft uns insofern, als wir Europäer durch über Jahrhunderte dauernde Diskriminierung, Pogrome und letztendlich den Holocaust Jüd:innen "gezwungen" haben, einen eigenen Staat als sicheren Hafen zu schaffen. Und das ging nicht ohne Konflikte mit der palästinensischen Bevölkerung, die auch heute noch nicht gelöst sind. Und so sind viele Araber:innen, die nach Europa eingewandert sind, von der ungelösten Frage eines Palästina-Staates und der israelischen Besetzung betroffen.

Während der Ukrainekrieg vornehmlich von der Öffentlichkeit in Europa beziehungsweise der westlichen Welt verfolgt wird, ist der Nahost Krieg global von Interesse. Die einen sehen Israel als Kolonialmacht, die anderen bewundern Israel, weil es seinen vielen Menschen, die von Europa vertrieben wurden, gelungen ist, – ohne natürliche Ressourcen, aber mit Intelligenz und Fleiß – ein erfolgreiches Land zu schaffen.

In beiden Fällen muss Europa die Komplexität und die vielfältigen Interessen an und in den Konflikten zur Kenntnis nehmen. Und zur Lösung braucht Europa Partner in der Welt. Beide Kriege sollten uns klarmachen, dass sich die politischen Gewichte verschoben haben. Wir brauchen nicht nur die USA zur Unterstützung, sondern auch Länder aus dem Globalen Süden. Auch aus diesem Grund sollte Europa versuchen, die verschiedenen multilateralen Organisationen, vor allem die Uno, aber auch die in Wien ansässige OSCE wiederzubeleben. Selbst wenn uns das gelingt, wird 2024 noch nicht den großen Frieden bringen, aber vielleicht einige Schritte in diese Richtung. (Hannes Swoboda, 5.1.2024)