Resettlement von der Türkei nach Spanien.
Experten wünschen sich mehr Resettlements wie im Mai 2023 vom türkischen Bebengebiet nach Spanien.
EPA

Schärfer, härter, restriktiver – das ist der aktuelle Trend in Europas Asylpolitik. Bis Ende November wurden heuer in der EU, in Norwegen und in der Schweiz 912.000 Asylanträge gestellt, das ist ein Viertel mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahrs. Und bis Mitte Dezember haben in diesem Jahr mehr als 257.000 Menschen Europa über das Mittelmeer erreicht – 2022 waren es insgesamt 159.410.

Angetrieben von diesen Zahlen arbeiten die EU und einzelne Mitgliedsländer daran, die Regeln auf menschenrechtlich bedenkliche Art zu verschärfen (siehe Wissen unten). Im Rahmen einer geplanten EU-Asylreform soll es Schnellverfahren an den Außengrenzen und Rückschiebungen in Drittstaaten geben. Auch die Idee der Auslagerung von Asylverfahren findet in der Politik immer mehr Zuspruch.

Video: EU-Mitgliedsstaaten und EU-Parlament einigen sich auf Asylreform.
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Forschung gegen Auslagerungen

"In der etablierten Migrations- und Fluchtforschung gibt es kaum jemanden, der die Externalisierung von Asylverfahren gutheißt", hält Judith Kohlenberger dagegen. Die Migrationsforscherin von der Wirtschaftsuniversität Wien beobachtet "mit Sorge eine große Diskrepanz zwischen dem, was State of the Art in der Wissenschaft ist, und dem, was in der Politik opportun scheint".

Auch Steffen Angenendt kann mit den Vorschlägen nicht viel anfangen. "Bei solchen Ideen fragt man sich oft, warum vor dem Propagieren der Konzepte nicht über die Voraussetzungen nachgedacht wurde", sagt der Experte der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik. Würde man Schnellverfahren an den Außengrenzen oder Asylverfahren in Drittstaaten durchführen, so Angenendt, müssten die Menschen mit negativem Bescheid ja trotzdem rückgeführt werden, was aber auch dann an der mangelnden Kooperation der Herkunftsländer scheitern dürfte.

Alternativen zu einer restriktiven Politik sind vorhanden, auch wenn es laut Kohlenberger "nicht diesen einen Hebel gibt, der das ganze Thema löst". Und auch "wenn nun diese Heilsversprechen diskutiert werden, wird man irreguläre Migration nach Europa wahrscheinlich nie ganz auf null bringen können".

Asyl und Migration trennen

Der Ansatz, den Kohlenberger, Angenendt und auch die Migrationsforscherin Birgit Glorius von der Technischen Universität Chemnitz präferieren, ist, wie Letztere sagt, "Migrationsströme zu entflechten". Asyl und Migration gehören getrennt, so Angenendt, "das ist nicht neu, aber es wird nicht umgesetzt".

Zu viele Menschen befänden sich im europäischen Asylsystem, sagt Kohlenberger, "die dort nicht hingehören und auch gar nicht dort hinwollen. Sie haben keinen Schutzbedarf, sie wollen arbeiten." Diese Menschen benötigen alternative Einreisemöglichkeiten, die es derzeit kaum gebe. "Wenn man diesen Teil der irregulären Migration in die Regularität überführt, könnte man schon einen gewissen Druck aus dem System herausnehmen", sagt Kohlenberger. Und dann könnte man auch die legalen Fluchtmöglichkeiten für jene aufstocken, die es wirklich brauchen. Resettlement, Botschaftsasyl, man brauche viele Varianten, um auf die jeweiligen Formen von Vertreibung reagieren zu können, so Kohlenberger.

Gleichzeitig könnte man damit auch auf den zunehmenden Fachkräftemangel in Europa reagieren. "Wir brauchen Arbeitskräfte, auch durch eine alternde Gesellschaft. Und das ist der Punkt, an dem sich die verschiedenen Bedürfnisse eigentlich treffen könnten", sagt Forscherin Glorius.

Großes Eigeninteresse

Ins gleiche Horn stößt Steffen Angenendt: "Eigentlich müsste man nicht viel Überzeugungsarbeit bei den EU-Staaten leisten, weil jedes Land einen großen Zuwanderungsbedarf hat. Das bedeutet, das Eigeninteresse der Mitgliedsstaaten ist riesengroß, die Ankunftszahlen bei irregulärer Migration zu senken und legale Arbeitsmigration zu forcieren."

Derzeit ist es etwa für Menschen aus dem subsaharischen Afrika unmöglich, ein Visum für Europa zu erhalten, weil es schlichtweg zu teuer ist. Die Forschung und auch die Praxis bieten viele Varianten, um das Problem zu lösen, erklärt Kohlenberger. In Kanada gibt es das Konzept des Private Sponsorship: Zivilgesellschaft, Kommunen und Unternehmen finanzieren die Zusammenarbeit, um Arbeitskräfte ins Land zu holen. So wird die Bevölkerung eingebunden und die Aufnahmebereitschaft hochgehalten, sagt Kohlenberger.

Zirkuläre Visa vergeben

Auch schlägt sie das Konzept der zirkulären Migration vor: niederschwellige Visa auf Zeit mit der Möglichkeit, nach Rückkehr erneut ins Zielland einreisen zu dürfen. Dadurch sind die Menschen auch eher bereit, tatsächlich die Heimreise anzutreten. Oder Global Skills Partnerships: Ausbildungszentren werden in Herkunftsländern errichtet. Für jede Person, die für Europa ausgebildet wird, wird auch eine Person für das Herkunftsland ausgebildet, um einem Braindrain entgegenzuwirken. Gleichzeitig, sagt Angenendt, könnte man durch ernsthafte und praktisch zugängliche Möglichkeiten der legalen Migration die Herkunftsländer zu Deals mit Rückführungselementen bewegen. "Man kann funktionierende Abkommen nur erzielen, wenn man diesen Ländern auch wirklich etwas anbietet."

Expertin Glorius hält es für sinnvoll, Programme auf EU-Ebene in einem größeren Rahmen aufzustellen, auch wenn die Union eigentlich keine Kompetenzen hat: "Das würde zu einem stärkeren Widerhall in der Welt führen. Die auswanderungswilligen Menschen würden das auch eher mitbekommen."

Bis sich hier aber wirklich etwas zum Positiven ändert, wird es noch dauern, da sind sich Kohlenberger, Angenendt und Glorius einig. Erstere vermutet: "Es wird erst noch schlimmer kommen, bevor es besser wird – bevor erkannt wird, dass diese Politik der Abschottung und Abschreckung nicht zum gewünschten Erfolg führt. Denn auch im nächsten Jahr werden die Zahlen trotz Verschärfungen nicht zurückgehen." (Kim Son Hoang, 26.12.2023)