Orbán, Von der Leyen schütteln Hände
Ungarns Premier Viktor Orbán und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vergangenen Oktober in Brüssel.
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Die Freigabe von EU-Mitteln in Höhe von zehn Milliarden Euro, die zuvor wegen gravierender Bedenken hinsichtlich Korruption und Rechtsstaatlichkeit in Ungarn eingefroren worden waren, ist ein eklatanter Fehler. Diese Entscheidung der EU-Kommission belohnt Viktor Orbáns autokratisches Handeln, das im Widerspruch zu den Grundwerten der EU steht, und untergräbt direkt die geschlossene Position der Gemeinschaft gegenüber Russlands Aggression in der Ukraine. Ein schlechteres Timing hätte es nicht geben können, verabschiedete doch Ungarns Regierungspartei gerade ein neues drakonisches Gesetz zum "Schutz der Souveränität" im Stil von Wladimir Putins repressivem Gesetz über "ausländische Agenten"; beide haben die Unterdrückung abweichender Meinungen zum Ziel.

Es ist eine bittere Ironie: Während die EU auf die Notwendigkeit hinweist, die Unterstützung für die Ukraine aufrechtzuerhalten, belohnt sie einen Mitgliedsstaat, der die Hilfe für Kiew aktiv blockiert, mit einem umfangreichen Finanzpaket. Das ist nicht nur ein diplomatischer Widerspruch, sondern auch ein moralisches Versagen. Durch ihre Kapitulation vor Orbán stärkt die EU indirekt ein Regime, das Russland unerschütterlich seine Unterstützung gewährt.

Vetorecht ausgenützt

Um Zugeständnisse zu erwirken, hat die Orbán-Regierung bereits zeitweilig Sanktionen gegen Russland blockiert und erfolgreich dafür gekämpft, dass russische Unterstützer der Invasion nicht auf die Sanktionsliste der EU gesetzt werden, etwa der mit Putin verbündete Patriarch Kyrill I. von Moskau. Die ungarische Regierung hat immer beteuert, dass sie ihr Vetorecht in Bezug auf die Ukraine-Hilfe nicht ausnutzt, um eingefrorene EU-Mittel zu erwirken. Zwei Tage vor einem wichtigen EU-Gipfel räumte der oberste politische Berater des Ministerpräsidenten nun doch ein, Ungarn sei für den Erhalt der Gelder bereit, sein Veto aufzugeben.

Laut der Kommission erfüllt Ungarn die Kriterien für die Freigabe der Mittel für die Kohäsionspolitik, die Meeres- und Fischereipolitik und die Innenpolitik durch Maßnahmen, die ernsthafte Bedenken an der Unabhängigkeit der Justiz ausräumen. Doch das Gesetz zum "Schutz der Souveränität", das das ungarische Parlament am 12. Dezember verabschiedete, verrät Orbáns Absichten.

"Das Gesetz stellt einen direkten Angriff auf die unabhängige Zivilgesellschaft und die freie Meinungsäußerung dar."

Vorgeblich zum "Schutz" der nationalen Souveränität bestimmt, stellt das Gesetz in Wirklichkeit einen direkten Angriff auf die unabhängige Zivilgesellschaft und die freie Meinungsäußerung dar. Es sieht unter anderem ein "Amt für die Verteidigung der Souveränität" mit unbegrenzten Befugnissen vor, um gegen jeden zu ermitteln, der im Verdacht steht, "ausländischen Interessen zu dienen". Dass das Gesetz darauf abzielt, ausländische Unterstützung für politische Parteien, zivile Organisationen und die Presse zu verhindern, wie der Fidesz-Fraktionsvorsitzende Máté Kocsis betonte, offenbart eine besorgniserregende Auffassung von Souveränität, die demokratische Unabhängigkeit mit staatlicher Kontrolle verwechselt.

Akademiker, Juristen, NGOs, und auch "Action for Democracy" kritisieren das Gesetz als rechtswidrig und als Versuch, kritische Stimmen in Ungarn zu unterdrücken. Mehr als 100 ungarische regierungsunabhängige Organisationen haben Anfang des Monats eine gemeinsame Erklärung abgegeben, um gegen die Verabschiedung des Gesetzes zu protestieren. Redakteurinnen und Redakteure der wichtigsten unabhängigen Medien in Ungarn warnten, das Gesetz bedrohe die Medienfreiheit und die demokratische Debatte.

Gefährlicher Präzedenzfall

Überdies verfolgen die Darstellungen der ungarischen Regierung das Ziel, die Opposition gegen Orbán zu delegitimieren – eine Praktik, die nicht nur an die Vergeltungspraktiken totalitärer Regimes erinnert, sondern auch eine klare Abkehr von den demokratischen Grundsätzen der EU darstellt.

Durch das Versäumnis, Ungarn zur Rechenschaft zu ziehen, schafft die EU einen gefährlichen Präzedenzfall für politische Erpressung als wirksame Strategie gegen gemeinschaftliche Entscheidungsprozesse. Dies ermutigt autokratische und populistische Politiker und Politikerinnen wie Geert Wilders und Giorgia Meloni und schwächt die EU auf internationaler Ebene. Es bestärkt auch Orbán in seinem Bestreben, die Bewegung der populistischen Rechten vor und nach den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2024 anzuführen.

Strategischer Fehltritt

Und nicht zuletzt könnte diese Entscheidung politische Auswirkungen innerhalb der Gemeinschaft haben, etwa die mögliche Wiederwahl Ursula von der Leyens gefährden, da die schwache Haltung ihrer Regierung in Sachen Rechtsstaatlichkeit immer wieder Anlass zur Debatte bot. Das EU-Parlament, das sich hartnäckig gegen die Freigabe von Geldern an Ungarn ohne substanzielle Reformen gewehrt hat, wird diese Entscheidung wahrscheinlich als direkte Infragestellung seiner Grundsätze und Autorität betrachten. Die EU-Mittel werden zudem zu einem Zeitpunkt freigegeben, zu dem in Ungarn eine staatlich geförderte Plakatkampagne von der Leyen und Alexander Soros, den Vorsitzenden der Open Society Foundations, mit der Mahnung "Tanzen wir nicht nach ihrer Pfeife!" attackiert.

Plakat mit Von der Leyen und Soros
"Tanzen wir nicht nach ihrer Pfeife!" steht auf diesem Plakat mit von der Leyen und Soros.
Foto: APA / AFP / Attila Kisbenedek

Die Freigabe ist nicht nur ein diplomatisches Versäumnis, sondern ein strategischer Fehltritt, der die Integrität, die Werte und das Ansehen der EU in der Welt zu untergraben riskiert. Das Belohnen eines autokratischen Regimes auf Kosten der gemeinschaftlichen Grundsätze birgt die Gefahr, dass die EU ihre moralische und politische Autorität innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen verliert.

"Jedes weitere Zugeständnis an das Orbán-Regime wäre töricht."

Europas Politikerinnen und Politiker dürfen sich nicht erpressen lassen. Bleibt Orbán bei seinem Veto gegen das Ukraine-Hilfspaket, sollten sie einen Alternativweg finden, auch wenn dieser mühsamer ist. Jedes weitere Zugeständnis an das Orbán-Regime wäre töricht. Zugleich sollten sie sich dessen bewusst sein, welches Leid Orbáns unaufhörlicher Machthunger im ungarischen Volk zur Folge hat.

Sie müssen einen Weg finden, die zurückgehaltenen EU-Gelder direkt an ungarische Gemeinden, Unternehmen, NGOs und in Not geratene Menschen zu verteilen, um so sicherzustellen, dass die Bedürftigen die ihnen zustehende Unterstützung erhalten und zugleich eine Regierung umfahren wird, die die Grundsätze der Gemeinschaft konsequent missachtet. (David Koranyi, Übersetzung: Ingo J. Biermann, 29.12.2023)