2023 war ein Schlüsseljahr, 2024 folgt das Superwahljahr.
der Standard

Sollten Historikerinnen und Historiker eines Tages auf die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts zurückschauen und vom Zeitalter der Autokratie sprechen, würden sie wohl die Frage stellen, wann diese Ära begonnen hat. Manche werden den Anfang auf 2009 legen, als Benjamin Netanjahu zum zweiten Mal israelischer Ministerpräsident wurde – und mit seiner demagogischen Politik der Feindbildung und Schwächung der Zivilgesellschaft bald zum Vorbild für andere wurde. Ein Jahr später kehrte in Ungarn Viktor Orbán zurück an die Macht, der dieses Modell der "illiberalen Demokratie" in den folgenden Jahren perfektionierte.

Schlüsseljahr

2012 war ein weiteres Schlüsseljahr: Wladimir Putin ließ sich im März nach einer Pause als Premierminister erneut zum russischen Präsidenten wählen und die Proteste dagegen mit Gewalt niederschlagen. Das Land war damit klar auf dem Weg in die Diktatur.

Im Mai errang in Indien der Hindu-Nationalist Narendra Modi einen überwältigenden Wahlsieg und legte danach der einst lebendigen indischen Demokratie enge Zügel an, die ihm seither die Macht sichern.

Im November wurde Xi Jinping zuerst zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas und im Folgejahr zum Staatspräsidenten ernannt. Er beendete die unter Deng Xiaoping eingeführte kollektive Führung und schuf einen neuen auto­ritären Personenkult, der viele an Mao Tse-tung erinnert.

Zerstörung der Demokratie

Und vielleicht – jetzt gilt es für alle Leserinnen und Leser stark zu bleiben – wird das Jahr 2024 in dieser Erzählung prominent vorkommen: als jenes Jahr, in dem die Autokraten endgültig die Oberhand gewannen. Das liegt vor allem an einer Wahl: jener zum Präsidenten der USA, bei der einander wohl Joe Biden und Donald Trump erneut gegenüberstehen werden.

Viele Fachleute warnen, dass Trumps Rückkehr ins Weiße Haus aus der so traditionsreichen amerikanischen Demokratie eine De-facto-Diktatur machen könnte. Ohne die USA aufseiten der Freiheit hätten die Xis, Putins, Modis , Erdoğans und Orbáns ein viel leichteres Spiel. In wichtigen EU-Mitgliedsstaaten sind Rechtsextreme auf dem Vormarsch: in den Niederlanden Geert Wilders, in Deutschland die AfD.

Machterhalt

Im vergangenen Jahrzehnt haben viele Politiker gelernt, wie man sich trotz scheinbar freier Wahlen an der Macht hält. Man knebelt die Medien, drangsaliert die Opposition mit gesteuerten Strafprozessen, erklärt NGOs zu ausländischen Agenten und macht massiv Stimmung gegen vorgebliche Feindbilder im In- und Ausland, die angeblich die Nation bedrohen. Allzu oft zielt die Hetze auf vulnerable Minderheiten ab, seien es Homosexuelle, ethnische oder religiöse Gruppen.

Oft ist die Opposition gespalten, legt bei der Wahl ihrer Mittel mehr Skrupel an den Tag oder besitzt einfach nicht das gleiche Talent zur Demagogie wie die Populisten. Aber manchmal ist ihre Schwäche nicht ihre Schuld: Die neuen Autokraten werden das erste Mal zwar demokratisch gewählt, setzen dann aber alle Machtinstrumente ein, um ihre Herrschaft einzuzementieren. Was Adolf Hitler 1933 mit brutaler Repression tat, geschieht heute mit subtileren Mitteln. Wahlen werden dann zur Farce oder zumindest zum Match auf abschüssigem Spielfeld – mit vorhersehbarem Ergebnis.

Wahlen als Formsache

Der erste Test dieser Strategie im neuen Jahr findet in einem Land statt, das trotz einer Bevölkerung von mehr als 170 Millionen Einwohnern kaum Beachtung findet. In Bangladesch hat Premierministerin Scheich Hasina nach jahrelanger bitterer Rivalität mit Khaleda Zia seit 2009 eine Art Einparteienherrschaft errichtet, die bei den Wahlen am 7. Jänner weiter gefestigt werden wird.

Putins Wiederwahl für eine fünfte Amtszeit im März ist reine Form­sache. Wichtiger als das Wahlergebnis wird die militärische Entwicklung im Ukrainekrieg sein. Wenn die Hilfe des Westens für Kiew 2024 weiter schwindet und die russischen Truppen nicht nur ihre Stellung halten, sondern Boden gewinnen, wächst Putins innere und äußere Macht. Schwere Rückschläge an der Front könnten ihn hingegen schwächen.

Brutaler Bruch

Indiens Premier Modi sitzt im Vergleich recht sicher im Sattel. Aber Modi hilft seinem Machterhalt mit Mitteln nach, die einen brutalen Bruch für die weltgrößte Demokratie darstellen. Die Pressefreiheit wird eingeschränkt, NGOs werden in die Illegalität gedrängt und führende Oppositionelle mit fadenscheinigen Anklagen drangsaliert.

In China hat sich die KP unter Xi jeder potenziellen Opposition ent­ledigt und mit technologischen Mitteln ein Regime errichtet, das George Orwells 1984 noch mehr ähnelt als die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Dort ist das große Fragezeichen die Wirtschaft. Verschärfen sich die Krisensymptome oder kommt es gar zu einem Finanzcrash, dann bricht eine Säule der kommunistischen Herrschaft zusammen. Sonst aber wird China versuchen, seinen globalen Einfluss weiter auszubauen, und möglicherweise den Konflikt mit Taiwan anheizen – vor allem, wenn dort bei den Wahlen am 13. Jänner die antichinesische Regierungspartei DPP an der Macht bleibt.

Entscheidung in den USA

Der entscheidende Moment kommt im November bei den US-Präsidentschaftswahlen, wenn Trump und Biden einander erneut gegenüberstehen. Die Unbeliebtheit des Amtsinhabers, die Treue der repu­blikanischen Basis und Trumps geschickte Instrumentalisierung der vielen Gerichtsverfahren gegen ihn machen dieses Szenario wahrscheinlicher. In seiner Rhetorik wird der Ex-Präsident immer radikaler, verwendet NS-Diktion gegenüber Mi­granten und kündigt offen Revanche gegen seine Feinde an, zu denen er jeden zählt, der nicht für ihn ist. Die Machtfülle des US-Präsidenten ist gewaltig. Wenn er die Justiz und das Militär unter seine Kontrolle bringt und sie für seine Zwecke einsetzt, ist die US-Demokratie in akuter Gefahr.

So schlimm ist die Lage in Europa nicht. Aber Erfolge für die rechtsextreme AfD bei Landtagswahlen in Ostdeutschland und ein Erstarken der rechtspopulistischen Kräfte bei den Wahlen zum Europaparlament im Juni würden den Status der EU als Bollwerk gegen den Autoritarismus untergraben.

Österreichs Rolle

Österreichs Nationalratswahl im Herbst 2024 könnte dabei eine zen­trale Rolle spielen. Es gibt zwei große innerösterreichische Themen im kommenden Jahr. Erstens: Wird sich die erwartete Rezession in einem echten Wohlstandsverlust niederschlagen? Zweitens: Wird der extrem rechte FPÖ-Politiker Herbert Kickl Kanzler, und was bedeutet das für die liberale Demokratie?

Nichts Gutes, das kann man evidenzbasiert sagen. Über die politische Natur von Kickl kann es keine Zweifel mehr geben. Wie alle autoritären Politiker sagt er völlig klar an, was er will: Österreich in eine "illiberale Demokratie" umbauen. Den Begriff hat Ungarns Quasi-Diktator Orbán geprägt. Kickl sagt: "Machen wir es Orbán nach." Bei einem Kongress der Ultrakonservativen in Budapest im Mai 2023 pries er Orbán als "Vorbild für Europa". Vorbild Orbán hat die politische Opposition, die kri­tischen Medien und die unabhän­gige Justiz ausgeschaltet – und sich durch einen Wahlrechtstrick eine absolute Mehrheit gesichert. In Un­garn wird zwar noch gewählt, aber die Opposition hat keine Chance mehr.

NS-Diktion und Drohungen

Kickl sagte am 1. Mai 2023 klar, was er sein will: "ein freiheitlicher Volkskanzler statt Kanzler des Systems, das uns regiert hat". Das "System" ist die liberale Demokratie. "Systemkanzler", "Systemparteien", "Systemmedien" sind Nazi-Begriffe, die Kickl immer wieder verwendet („Die Systemparteien mit Feuer und Schwert ausrotten“, sagte Hitler 1932 zu seinem erzkonservativen Helfer Franz von Papen). Wie alle Autoritären arbeitet Kickl mit unverhoh­lenen Drohungen, die einschüchtern sollen: "Das ist die Agenda des Systems, und da werden wir uns zur Wehr setzen", sagte er in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Alice Weidel, Vertreterin der rechtsextremen deutschen AfD. Und: "Wir werden diejenigen, die es mit uns nicht gut meinen, in die Zange nehmen."

All das und noch viel mehr ist aus dutzenden Äußerungen Kickls belegbar. Ist das bloße Rhetorik? Als Kickl Handlungsvollmacht hatte, als Innenminister der jüngsten türkis-blauen Koalition, ließ er 2018 durch einen FPÖ-Polizisten eine Razzia beim Amt für Verfassungsschutz durchführen, um einerseits die ÖVP-Beamten dort "auszuräuchern" und andererseits die Abteilung für Rechtsextremismus zu zerschlagen. Gerichte erklärten die Aktion für "rechtswidrig", befreundete Geheimdienste stellten die Kooperation ein.

Innenpolitisch ist unter einem Kanzler Kickl ein rücksichtsloses Vorgehen gegen alle Unliebsamen zu erwarten. Dazu populistische, aber letztlich unwirksame Pseudo-Maßnahmen, vor allem auf dem Gebiet der Migration. Wirtschaftspolitische Inkompetenz und Korruption. Geopolitisch könnte Kickl Österreich zu einem Teil eines ostmitteleuropäischen autoritären, russenfreundlichen Blocks machen.

Autoritärer Block in Europa

Nachbar Ungarn ist praktisch keine Demokratie mehr, im Grunde auch schon fast aus der EU draußen. Orbán ist de facto ein Agent Putins in der EU und der Nato, vor allem, was die Unterstützung der Ukraine betrifft. Seit den Wahlen in der Slowakei im September 2023 hat Orbán in Robert Fico, einem nationalen Linkspopulisten, einen Verbündeten. Fico hat bereits angekündigt: keine Granate für die Ukraine mehr. Der dritte autoritäre, russenfreundliche Populist in Ostmitteleuropa, der serbische Präsident Alek­sandar Vučić, hat soeben mit unlauteren Mitteln Wahlen gewonnen.

Diesen autoritären, westfeindlichen Block in Ostmitteleuropa könnte ab Herbst Österreich komplet­tieren – unter einem Kanzler Herbert Kickl. Freundlich gegenüber Putin (die FPÖ hat immer noch einen Freundschaftsvertrag mit dessen Partei), feindselig gegenüber der Ukraine, der Nato, der EU.

FPÖ-Erfolge

Aber kann ein solcher Umsturz überhaupt gelingen? Kann Kickl wirklich Kanzler werden? Die Grundvoraussetzungen für einen Vormarsch der Autoritären sind auch in Österreich gegeben. Abgesehen von der Migration, die in Österreich besondere Brisanz hat (obwohl praktisch bereits das gesamte Dienstleistungsgewerbe von Migranten der ersten Einwanderungswelle und ihren Kindern bestritten wird), sind Verschlechterungen des täglichen Lebens feststellbar. Die Teuerung ist viel höher als in vielen anderen EU-Staaten. Das Gesundheitssystem, die ÖBB, die Wiener Verkehrsbetriebe schwächeln. Alte Sicherheiten – Autofahren, Häuselbauen, der Mann als "Herr im Haus" – gelten längst nicht mehr. Und rund 30 Prozent der Menschen haben laut einer Umfrage Zukunftsangst. Daraus sind die FPÖ-Erfolge gestrickt: seit über einem Jahr konstant 30 Prozent in Umfragen. Aber wie steht es taktisch-po­litisch?

Wenn die FPÖ stärkste Partei wird, hat Kickl einen starken Anspruch auf die Position des Kanzlers. Allerdings braucht er einen Partner, der ihn zum Kanzler macht.

Die Nehammer-ÖVP sagt immer wieder eindringlich, dass sie mit Kickl nicht kann, mit der FPÖ jedoch schon. Aber Kickl ist realistischerweise nicht von der FPÖ zu trennen. Er tritt wohl kaum in die zweite Reihe zurück (wie Jörg Haider im Jahr 2000). Wenn die ÖVP bei den Nationalratswahlen nur den dritten Platz hinter FPÖ und SPÖ erreicht, wird eine deroutierte ÖVP (ohne Nehammer) Kickl als Kanzler akzeptieren. Nur um wieder in die Regierung zu kommen.

Die Chance der Demokraten

Aber gibt es nicht eine Allianz gegen Kickl? Bestimmte Kräfte in ÖVP und SPÖ sind derzeit dabei, die gegenseitige Gesprächsfähigkeit zu verbessern. Man könnte dann eine Dreierkoalition unter Einbeziehung etwa der Neos probieren. Aber der SPÖ-Vorsitzende Andreas Babler gilt vielen ÖVPlern als linker Schreck (während man der FPÖ viel näher steht), und er selbst scheint die ÖVP als Hauptfeind zu betrachten und kooperiert im Parlament mit der FPÖ. Der Bundespräsident hat Möglichkeiten, aber sie sind beschränkt.

Aber es gibt auch die Möglichkeit, dass die FPÖ zwar in den Umfragen, nicht aber am Wahltag auf Platz eins zu liegen kommt. Dazu müsste Folgendes passieren: Die ÖVP müsste aufhören, den rechten Themen der FPÖ nachzulaufen, und stattdessen (angesichts der Rezession) die eigene Wirtschaftskompetenz beweisen; die SPÖ unter Babler müsste ernsthaft bei zur FPÖ abgewanderten Arbeitern und vor allem bei Nichtwählern punkten; die Neos müssten massiv einen Führungs- und Gestaltungsanspruch anmelden; die Grünen müssten kompromisslos die liberale Demokratie verteidigen; und die Zivilgesellschaft und die kritische Öffentlichkeit müssten mobilisieren und die ernsthaften Zweifel an der politischen Persönlichkeit Kickl effektiver umsetzen. Es kommt immer darauf an, wie stark die Gegenkräfte der liberalen Demokratie sind.

Zuversicht

Deshalb ist es – aus globaler und aus innenpolitischer Sicht – zu früh, das Zeitalter der Autokratie auszurufen. Eine neuerliche Niederlage für Trump würde nicht nur seine politische Karriere wohl endgültig beenden, sondern auch seinen politischen Stil und seine Botschaften in Misskredit bringen. Andere Länder haben gezeigt, dass starke Herausforderer autoritäre Populisten besiegen können – etwa Donald Tusk die PiS in Polen und Lula seinen Vorgänger Jair Bolsonaro in Brasilien.

Und wenn die EU-Erweiterung, lange Zeit eine entscheidende Kraft für Demokratisierung in Ost- und Südosteuropa, nach Jahren der Sta­gnation wieder an Schwung gewinnt und die Ukraine sich weiter tapfer gegen die russische Aggression verteidigt, hat die liberale Demokratie vielleicht doch eine Zukunft. (eric Frey, Hans Rauscher, 29.12.2023)