Hohe Geburtenrate plus Klimawandel werden zu verstärkter Auswanderung aus Afrika führen, ist Demograf Wolfgang Lutz überzeugt.
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Demografen können es sich zutrauen, Prognosen über 50 Jahre zu machen, sagt der Demograf Wolfgang Lutz. Denn "Menschen werden heute im Schnitt 70 bis 80 Jahre alt, und wenn wir wissen, wie viele Menschen heute geboren werden, wissen wir ziemlich sicher, wie viele in 50 Jahren leben werden". Andererseits besteht Demografie nicht nur darin, die Altersstruktur von Gesellschaften zu analysieren. Denn die Demografie ist ein mehrdimensionales Geschäft.

Ab da aber wird es kompliziert. Denn wer wissen will, wie sich die Weltbevölkerung entwickelt, darf nicht allein auf das Alter blicken. "80-Jährige in 50 Jahren werden gesünder sein und weniger Pflege brauchen", sagt Lutz. Eine gewagte Prognose? Nicht, wenn man Demografie mehrdimensional analysiert.

Nur die wenigsten haben in globalen und mehrdimensionalen Demografieanalysen so viel Expertise wie der langjährige Chef der Bevölkerungsforschung am International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA), Wittgensteinpreisträger des Wissenschaftsfonds FWF, Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Professor für Demografie an der Uni Wien. Lutz ist ein gefragter Experte und berät unter anderem die Europäische Kommission und die Vereinten Nationen. Kürzlich wurde er mit dem renommierten Wissenschaftspreis der Österreichischen Forschungsgemeinschaft (ÖFG) ausgezeichnet.

Bildung verbessert Lebensstil

Dass eine alternde Gesellschaft nicht in einem Pflegechaos ende, erschließe sich, wenn man die Bildung in die Analyse miteinbeziehe, sagt Lutz. Denn die Daten zeigen, dass etwa eine 70-jährige Frau mit Hochschulstudium weniger als die Hälfte der Wahrscheinlichkeiten für ernsthafte gesundheitliche Probleme oder Behinderungen aufweise als eine 70-jährige Frau mit Grundschulabschluss.

Oder anders formuliert: Mehr Bildung bedeutet einen gesünderen Lebensstil, Krankheitssymptome besser einschätzen zu können und früher zum Arzt zu gehen. Weil man aber die heutige hohe Zahl der 20-Jährigen mit Matura kenne, wisse man auch ihre Zahl in 60 Jahren. So lässt sich ableiten, dass 80-Jährige in Zukunft besser gebildet sein und pro Person einen niedrigeren Pflegebedarf haben werden als die heute 80-Jährigen.

Gerade diese mehrdimensionalen Analysen lassen Lutz auch andere Entwicklungen optimistisch einschätzen. Die Weltbevölkerung werde in den nächsten Jahrzehnten zwar von acht auf circa zehn Milliarden Menschen ansteigen, um dann insgesamt wieder, wie bereits in Asien und Europa heute, zu schrumpfen. Lutz’ Langfristprognose geht dabei bis 2200. Rechnet man den demografischen Wandel mit verschiedenen Szenarien weiter, werden in 200 Jahren etwa drei bis vier Milliarden Menschen auf der Erde leben. Das wäre auch kein Malheur: "Eine kleinere Weltbevölkerung ist gut fürs Klima", sagt Lutz.

Weltkarte Bevölkerung
Der Auswanderungsdruck wird in Afrika in den kommenden Jahrzehnten trotz verbesserter Bildungsprogramme und sinkender Geburtenraten nicht abnehmen.
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Um die Produktivität der Wirtschaft brauche man sich auch keine Sorgen zu machen: Sie werde in der Zukunft noch viel mehr als heute am Bildungsstand festgemacht. "Wir werden zwar viel weniger sein, dafür aber gesünder, reicher und besser gebildet – und damit auch in der Lage, mit dem bereits unvermeidbaren Klimawandel doch besser umgehen zu können", sagt Lutz.

Dem optimistischen Zukunftsausblick stehen freilich noch ein paar rezente Probleme entgegen. Denn: "Alle Länder befinden sich zwar im selben demografischen Übergangsprozess", sagt Lutz, "aber in verschiedenen Stadien." Während einige Länder zu schnell schrumpfen – Bulgarien und Rumänien etwa sind durch starke Auswanderung schon von Depopulation betroffen, und Südkorea schrumpft ebenso stark, weil die Geburtenrate heute bei 0,7 Kindern pro Frau liegt –, befindet sich Afrika gerade dort, wo sich Europa um 1900 befand. Die Sterberaten seien durch verbesserte Medizin- und Wasserversorgung gesunken, die Geburtenraten aber noch hoch. Der Effekt: rapides Bevölkerungswachstum.

"Afrika wird sich zumindest noch verdoppeln", sagt Lutz. Zwar werden verbesserte Bildungsprogramme die Geburtenraten sinken lassen, der Auswanderungsdruck wird damit aber noch nicht abnehmen. So wie Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa, als halb Irland nach Übersee auswanderte und Burgenlands Auswanderer Chicago zur größten Stadt des Burgenlands machten, werden auch weiterhin viele Menschen Afrika verlassen wollen.

Neues Asylsystem gefragt

Verstärken wird den Auswanderungsdruck noch der Klimawandel, der heute dichtbesiedelte Gebiete unbewohnbar machen wird. Hinzu kommt, dass sich in Zukunft, sofern Programme zur Armutsbekämpfung greifen, auch mehr Menschen in Afrika das Auswandern leisten werden können. Alles zusammengenommen hat das starke Auswirkungen auf Europas Migrationspolitik. "Da sind rationale Lösungen auf europäischer Ebene notwendig, und es braucht viel differenziertere Politikinstrumente. Alles andere nützt nur rechtspopulistischen Parteien."

Demografieforscher Wolfgang Lutz
EPA/Noemi Bruzak

So müsse in der Diskussion viel stärker zwischen Asylsuchenden, eingeladenen Arbeitsmigranten und Familiennachzug unterschieden werden. Zudem gehöre das gesamte Asyl- und Flüchtlingswesen neu überdacht und Asylverfahren auch außerhalb der EU-Landesgrenzen ermöglicht. "Denn derzeit kommen nicht die Ärmsten der Armen als undokumentierte Migranten nach Europa, sondern die, die sich zumindest 10.000 Euro für die Schlepper leisten können." Für Lutz ist das "eine maßlose Ungerechtigkeit gegenüber stärker Verfolgten, die das Geld für die Schlepper nicht auftreiben können".

Europa müsse sich auch des Integrationsthemas viel stärker annehmen. "Wenn man die Leute schon ins Land lässt, dann muss man sich auch viel mehr um ihre Integration kümmern." Denn sonst habe das "wirklich sozialen Sprengstoff und nützt dann niemandem. Weder der einheimischen Bevölkerung noch den Zuwanderern." (Norbert Regitnig-Tillian, 8.1.2024)