Theater Memoiren Gerhard Schröder Salzburger Festspiele
Jürgen Flimm in „Mit Herz und Mund und Tat und Leben“, betitelt nach zwei Johann-Sebastian-Bach-Kantaten: Kölner Frohnatur mit Ecken, Kanten und Schatten.
Hermann und Clärchen Baus

Regisseur Jürgen Flimm besaß auf den allerersten Blick eine Frohnatur. Nicht ohne schmatzendes Behagen mimte er den jovialen Hans Dampf: Er war, auch als er 2006 Festspielintendant in Salzburg wurde, der begnadete Schauspieler seiner selbst.

Nur gelegentlich tauchen in seinen jetzt posthum veröffentlichten Erinnerungen Gegner auf. Opportunisten oder Politiker wie der mehrjährige SPD-Chef Hans-Jochen Vogel, an denen er, der Gerhard-Schröder-Kumpel, kein gutes Haar lässt. Unter keinen noch so misslichen Umständen auf den Mund gefallen, reifte Flimm früh zum Prototyp westdeutscher Theaterherrlichkeit. Er war eloquent, sozial verträglich, zäh, dabei wölfisch verbissen in der Verfolgung selbstgesteckter Ziele.

Flimm war nicht provokant wie Claus Peymann, auch nicht tollkühn wie Hans Neuenfels. Das Betreten genialischer Bezirke eines Peter Zadek blieb ihm verwehrt. Dafür verstand sich Flimm prächtig auf das Zusammensammeln fremder Talente. Er ließ andere gelten. Dabei gebot er über die Fähigkeit, Schauspielgrößen – von Ingrid Andree bis Hans Christian Rudolph – zu Wahnsinnsleistungen anzustiften.

Jürgen Flimm wusste sich auf jede ihm gestellte Aufgabe einen Reim zu machen. Er konnte, wie er in seinen Memoiren schreibt, Trümmerlandschaften entwerfen (lassen), zumal als Opernregisseur – und trotzdem unbändigen Optimismus versprühen. 2023 im Februar verstarb der 1941 Geborene. Ihn als das wahre Glückskind unter den Nachkriegsintendanten zu bezeichnen verbietet sich jedoch: nach Lektüre seiner Autobiografie. Das nachgelassene, bemerkenswert schlecht lektorierte Erinnerungsbuch Mit Herz und Mund und Tat und Leben verdankt seinen Titel dem zweier Bach-Kantaten.

Höhere Sphären

Eine Kölner Aufführung der Matthäus-Passion unter Günter Wand – Klein-Jürgen erlebt sie im Beisein seiner Großmutter – markiert Flimms Eintritt in die höheren Sphären der Verwandlung. In solchen Winkeln wohnt die religiöse Zuversicht, diesfalls ist sie lutherischen Bekenntnisses. Klassisch die Manier des Dellbrücker Buben, die eigene Familie mit Puppenspielen auf dem Dachboden zu verzaubern.

Mit der Frage nach den Ursprüngen dieser Künstlervita landet man, wie so häufig, bei Patriarchen: solchen, die in den 1960ern bereits im Herbst ihrer Möglichkeiten standen. Die Könner waren, aber für die progressiv gestimmte Nachkriegsjugend von minderer Bedeutung. Von Hans Schweikart will Flimm sich die Zugewandtheit gespickt haben. Der heimgekehrte Emigrant Fritz Kortner, dem Flimm assistierte, kommt erstaunlich schlecht weg. Dafür lobt der Mann vom Rhein seinen Förderer Boy Gobert über den grünen Klee.

Mit ironischem Augenblitzen verdeutlicht Flimm seine Befähigung, Errungenschaften anderer aufzusaugen. Man erfährt allerlei über Kunst und Gewerbe. Auch über den Kunstschnee, den Flimm über Büchners Leonce und Lena beidhändig niederrieseln ließ. Seltsam dennoch, dass eine so exemplarische Künstlervita wie diejenige Flimms sich in der Rückschau so benommen und blass ausnimmt: gedanklich außerordentlich schwach durchblutet. Obwohl der Schauspielintendant von Köln und Hamburg doch mit Nikolaus Harnoncourt kooperierte und in Alexander Pereira, dem damaligen Zürcher Opernchef, einen liebenden Förderer fand.

Ausflug zu Zwergen

Seinen Abstecher als Ring-Regisseur nach Bayreuth (2000–2005) nennt er einen "Ausflug zu Zwergen und Riesen". Flimm lässt nicht den geringsten Zweifel, welcher der beiden Gattungen er den steif-kauzigen Komponistenenkel Wolfgang Wagner zuschlägt. Auch an seinem zweimaligen Salzburger Abenteuer fand Flimm wenig Geschmack. Den Verantwortlichen an der Salzach attestiert Flimm – den sie gerne "Papa" nannten – eine bemerkenswerte Befähigung für das Intrigenspinnen.

Bereits während Flimms Amtszeit soll Markus Hinterhäuser ("ein tüchtiger Konzertchef"!) "seine Startlöcher für meine Nachfolge" ausgehoben haben. Auch Krankheit und Alter haben Jürgen Flimm nicht vor einer gewissen Bitterkeit bewahrt. Obgleich er doch das vermeintlich heitere Glückskind der Berliner Republik war: als diese noch jung war und nach Gerhard Schröders Macho-Zigarren duftete. (Ronald Pohl, 11.1.2024)