Für eine Anklageschrift in Wirtschaftsstrafsachen ist das Dokument erstaunlich schlank, gerade einmal sieben DIN-A4-Seiten lang.

Dafür ist alles drin, was es für einen Strafprozess bräuchte. Ein zuständiges Schöffengericht: in diesem Fall Feldkirch in Vorarlberg. Sieben Zeugen der Anklage: in diesem Fall vorwiegend Vertreter der Gemeinde Lech am Arlberg. Ein Delikt: hier die mutmaßliche Bestechung nach Paragraf 307 Absatz 2 des Strafgesetzbuchs. Und ein Anzuklagender: René Benko.

Was dieser Anklageschrift fehlt, ist der Strafprozess. Denn diesen hat es nie gegeben.

Benko
René Benko im Ibiza-U-Ausschuss.
Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Ende 2015 hatte die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) den Entwurf einer Bestechungsanklage gegen den Immobilienunternehmer in der Schublade.

Die Behörde wollte Benko wegen eines mutmaßlich unlauteren Angebots an den Lecher Gemeinderat vor Gericht stellen, doch im Oktober 2016 wurde das aus Sicht der WKStA anklagereife Verfahren auf Weisung der Oberstaatsanwaltschaft und mit Billigung des Justizministeriums eingestellt.

Interventionsverdacht

Justizminister war damals Wolfgang Brandstetter (ÖVP), die Oberstaatsanwaltschaft Wien wurde von Eva Marek geführt, seit 2018 OGH-Vizepräsidentin. Wegen Mareks Ernennung im Jahr 2014 wird ein Ermittlungsverfahren gegen Brandstetter geführt – er bestreitet die Vorwürfe, und es gilt die Unschuldsvermutung.

In Mareks Amtszeit fiel jedenfalls die Causa "Chalet N". Sie könnte auch für die Untersuchungskommission des Justizministeriums interessant sein. Das Gremium unter dem Vorsitz des Antikorruptionsexperten Martin Kreutner wurde auf Initiative von Justizministerin Alma Zadić installiert – als Reaktion auf Äußerungen des mittlerweile verstorbenen Justiz-Sektionschefs Christian Pilnacek.

Pilnacek hatte im Juli 2023 bei einem heimlich aufgezeichneten Gespräch im kleinen Kreis von versuchten politischen Interventionen rund um staatsanwaltschaftliche Ermittlungen erzählt und dabei unter anderem Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) belastet (Sobotka bestreitet die Vorwürfe).

Über die "abgedrehte Anklage" gegen Benko hatte die Plattform "Dossier" erstmals 2019 berichtet, nun liegen dem STANDARD und dem Podcast Die Dunkelkammer Dokumente vor, die Einblick in die damaligen justizinternen Abläufe geben.

Chalet N
Das Chalet N in Oberlech am Arlberg.
Chalet-N

Die Unterlagen dokumentieren vor allem auch persönliche Interventionen von Benkos damaligem Verteidiger, Justizminister a. D. Dieter Böhmdorfer (FPÖ), bei der Leiterin der Oberstaatsanwaltschaft Wien.

Der Fall geht auf das Jahr 2011 zurück: René Benko hatte damals über zwei seiner Laura-Privatstiftung gehörende Firmen die Muxel Berggasthof Schlössle GmbH übernommen, an welcher der gleichnamige baufällige Gasthof im Ortsteil Oberlech hing.

Ehe Benko sein Hotelprojekt realisieren konnte, brauchte er noch ein Arrangement mit der Gemeinde Lech. Diese hatte seit 1977 ein Vorkaufsrecht auf den "Schlössle"-Grund, wobei 2011 offenbar unterschiedliche Rechtsauffassungen über dessen Gültigkeit bestanden – langwierige zivilrechtliche Auseinandersetzungen drohten.

Am 6. September 2011 empfingen mehrere Gemeindevertreter René Benko zu einem informellen Gespräch, das eineinhalb Monate später in einen Vergleich mündete: Für den Verzicht auf ein Ausjudizieren des Vorkaufsrechts bekam die Gemeinde Lech von Benkos Firmengruppe 500.000 Euro und dazu ein neues Vorkaufsrecht für die nächsten zwei Jahrzehnte.

Sechs-Sterne-Luxus

Benko ließ auf dem Grundstück das längst sagenumwobene "Chalet N" errichten, benannt nach seiner Frau Nathalie: Der Komplex besteht aus zwei Appartementhäusern in Edel-Holzbauweise, die zum Teuersten gehören, was man so mieten kann.

Eva Marek
Höchstrichterin Eva Marek im ÖVP-Untersuchungsausschuss am 4. Mai 2022.
IMAGO/SEPA.Media

Abgesehen von Benkos Family & Friends dürften nicht viele Menschen über die nötige finanzielle Grundausstattung verfügen, um dort auch nur wenige Stunden zu verbringen.

Eine Woche im "Chalet N" kostet derzeit mehr als 300.000 Euro, dafür kann man dann aber auch gut 20 Leute mitbringen. Und es gibt dazu immerhin Vollpension mit Weinbegleitung, Spa, Butler- und Limousinenservice, Skipässe für eine Woche, Bademäntel, Hausschuhe – und eine 50-minütige Willkommensmassage.

Beim "Chalet N" ging es aber nicht immer nur um Sechs-Sterne-Luxus, auf dem Projekt lastete vorübergehend auch Korruptionsverdacht.

Und das führt zurück zu besagter Anklageschrift der WKStA vom Herbst 2015.

Gesplittete Zahlung

Die Behörde sah es damals als erwiesen an, dass Benko Vertretern der Gemeinde Lech bei der informellen Besprechung am 6. September 2011 zunächst 500.000 Euro in zwei Tranchen geboten hatte.

Dabei sei nur die eine Hälfte als Abschlagszahlung für das Vorkaufsrecht gedacht gewesen und sollte auch sofort fließen, die zweite aber erst später – und zwar im Abtausch für "eine zeitlich beschleunigte Abwicklung von Verwaltungsverfahren der Gemeinde, insbesondere die Abänderung des Bebauungsplanes und die Teilabänderung der Flächenwidmung sowie den Abschluss eines Raumplanungsvertrages", wie es in der vorliegenden Anklageschrift heißt.

Laut Strafgesetzbuch macht man sich auch dann strafbar, wenn man Amtsträgern für die "pflichtwidrige Vornahme oder Unterlassung eines Amtsgeschäfts" Vorteile verspricht, wobei der Strafrahmen im konkreten Fall bei bis zu zehn Jahren Haft gelegen wäre.

Verfahren gegen Bürgermeister eingestellt

Ins Rollen kamen die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen erst durch Berichte im "Spiegel" und im STANDARD Ende 2014, damals noch auf Ebene der Staatsanwaltschaft Feldkirch, ehe diese den Akt an die WKStA abtrat.

Die Ermittlungen richteten sich zunächst auch gegen den damaligen Bürgermeister von Lech, Ludwig Muxel (ÖVP), sein Verfahren wurde aber bereits 2015 mangels belastbarer Indizien wieder eingestellt.

Anders im Fall Benko: Ihn allein wollte die Staatsanwaltschaft schließlich wegen versuchter Bestechung von Gemeindevertretern anklagen.

"Frechheit"

Die Behörde stützte sich dabei auf einen Aktenvermerk des Gemeindesekretärs, der bei dem Meeting mit Benko 2011 anwesend war, auf Zeugenaussagen mehrerer Gemeindevertreter ("Es sei einhellig so empfunden worden, dass es eine Frechheit sei, über Verfahrensabläufe gegen Geldzahlung zu diskutieren", sagte ein Zeuge) und auf das Protokoll einer Gemeinderatssitzung, bei welcher Benkos Vorhaben ebenfalls zur Sprache gekommen war.

Laut dem Aktenvermerk des Gemeindesekretärs hatte Benko der Gemeinde Lech insgesamt 500.000 Euro angeboten, wobei eben nur eine Hälfte für das Vorkaufsrecht gedacht war. Die zweite Hälfte sollte "im Rahmen einer zeitlich vernünftigen Abwicklung der Genehmigungsverfahren für sein Projekt im Nachhinein" zur Verfügung gestellt werden – "für Projekte der Gemeinde".

Benko hat die Vorwürfe stets bestritten: Er habe den Gemeindevertretern niemals ein solches Angebot unterbreitet oder versucht, die Gemeinde zu beeinflussen – es sei auch immer nur um die 500.000 Euro für den Verzicht auf das Ausjudizieren des Vorkaufsrechts gegangen. Er, Benko, habe lediglich ein "längeres Zahlungsziel durch Splittung der Fälligkeit des Vergleichsbetrages" angestrebt, was von der Gemeinde aber abgelehnt worden sei.

Brandstetter
Wolfgang Brandstetter war von 2013 bis 2017 Justizminister.
IMAGO/SEPA.Media

Auftritt Dieter Böhmdorfer: Laut der Dokumentation war die Anklage der WKStA in Fertigstellung, als Böhmdorfer im September 2015 einen ersten persönlichen Termin in dieser Sache bei Eva Marek hatte.

Bei dieser Gelegenheit übergab der Anwalt der OStA-Leiterin einen Brief, den Marek mit einem gelben Post-it ablegte: "Von RA Dr. Böhmdorfer am 10. September 2015 mir persönlich übergeben", notierte sie.

In dem vorliegenden Schreiben an Marek drückte Böhmdorfer seine Besorgnis darüber aus, dass die WKStA das Ermittlungsverfahren gegen René Benko "trotz geklärter Sach- und Rechtslage in Folge unrichtiger rechtlicher Beurteilung zu Unrecht noch nicht eingestellt" hatte. "Alleine die Ermittlungen gefährden zahlreiche Projekte und damit Arbeitsplätze in Österreich, und zwar auch dann, wenn René Benko im Rahmen einer gerichtlichen Verhandlung seine Unschuld beweisen muss und ein Freispruch erfolgt", schrieb der Anwalt.

Böhmdorfer ersuchte Marek, die Ermittlungsergebnisse "im Rahmen der gesetzlichen Fachaufsicht jedenfalls vor einer Anklageerhebung" zu prüfen.

Es ist nicht unüblich, dass Anwälte direkt mit Oberstaatsanwaltschaften kommunizieren, aber in diesem Fall geriet einiges auffallend schnell in Bewegung.

Böhmdorfer und die gelben Post-its

Nur vier Tage nach Böhmdorfers Besuch forderte Marek die untergeordnete WKStA schriftlich auf, über den Stand des Verfahrens gegen René Benko zu berichten.

Die WKStA schickte zunächst einen Zwischenbericht nach oben, ehe Behördenleiterin Ilse-Maria Vrabl-Sanda am 29. Oktober den ersten Entwurf der Anklageschrift übermitteln ließ.

Wenig später trat abermals Dieter Böhmdorfer in Erscheinung. Ob er zu diesem Zeitpunkt Kenntnis von dem eigentlich vertraulichen Anklagevorhaben der WKStA hatte, geht aus der Dokumentation nicht hervor. Böhmdorfer wollte sich mit Hinweis auf das Anwaltsgeheimnis nicht äußern.

Am 18. Februar 2016 schickte seine Kanzlei der OStA eine 22-seitige Stellungnahme, die unter anderem die Aussagen der zentralen Zeugen der WKStA erschüttern sollte.

Vier Tage später schaute Dieter Böhmdorfer ein zweites Mal persönlich bei Eva Marek vorbei (dieses Mal überreichte er ein privates Rechtsgutachten, das die Verdachtslage zusätzlich entkräften sollte).

Eva Marek versah auch diese Urkundenvorlage mit einem gelben Post-it.

Interessanterweise wird in der justizinternen Dokumentation an mehreren Stellen darauf hingewiesen, dass Böhmdorfer trotz zahlreicher Stellungnahmen, Beweisanträge und Urkundenvorlagen keinen formellen Antrag auf Verfahrenseinstellung gestellt hatte.

Letztlich musste er das auch nicht tun.

Das erledigte die Oberstaatsanwaltschaft. Nach Böhmdorfers zweitem Besuch bei Marek vergingen noch einmal drei Monate – und dann war die Anklage erledigt.

Pilnacek
Christian Pilnacek, zu sehen im April 2023.
APA/HELMUT FOHRINGER

Am 12. Mai 2016 informierte Eva Marek das Justizministerium über eine beabsichtigte Einstellungsweisung in der Causa Benko/Lech.

Die Anklage gegen Benko sei nicht zu genehmigen, weil der Nachweis des "Versprechens eines Vorteils für die Vornahme eines pflichtwidrigen Amtsgeschäfts" nicht zu erbringen sei, so die OStA.

Das von Eva Marek unterfertigte Schriftstück liegt ebenfalls vor. Darin bemängelt die OStA die Arbeit der WKStA an mehreren Stellen – und stellt auch deren Schlussfolgerungen infrage.

So habe die WKStA die Zeugenaussagen unvollständig und einseitig wiedergegeben, obendrein seien diese auch noch widersprüchlich. Überhaupt gäben die Zeugenaussagen "keinen Aufschluss darüber, in welchen konkreten Verfahren die Gemeinde Lech beeinflusst werden sollte".

Auch die Aussagekraft des Aktenvermerks des Gemeindesekretärs zog die OStA in Zweifel. Daraus gehe mitnichten hervor, dass Benko 250.000 Euro für eine Beschleunigung der Gemeindeverfahren versprochen hatte: "Tatsächlich ist im … Aktenvermerk zu keiner Zeit von einer Beschleunigung von 'Genehmigungsverfahren' die Rede, sondern lediglich einer 'zeitlich vernünftigen Abwicklung' sowie einer Genehmigung des Projekts ohne große Unwägbarkeiten, woraus keineswegs auf eine angestrebte Bevorzugung geschlossen werden kann", schrieb die OStA dem Justizministerium. Und: Manche der von Benko benötigten Genehmigungen wären gar nicht im Einflussbereich der Gemeinde gelegen.

Pilnacek: "Einseitigkeit der WKStA"

Der Akt landete in der Sektion IV/5, damals geleitet vom mittlerweile verstorbenen Sektionschef Christian Pilnacek – und der war bekanntlich kein Fan der WKStA.

Auch das Justizministerium reagierte – für seine Verhältnisse – ziemlich prompt.

Am 10. August 2016 genehmigte zunächst das Ministerium die beabsichtigte Einstellungsweisung, eineinhalb Monate später passierte das Vorhaben der Oberstaatsanwaltschaft auch den Weisungsrat.

Am 10. Oktober 2016, ziemlich genau ein Jahr nachdem Dieter Böhmdorfer seinen ersten Termin bei Eva Marek in Sachen Benko gehabt hatte, schickte die OStA schließlich die Einstellungsweisung nach unten, also an die WKStA.

Ein Formalakt, für den es nur noch wenige Zeilen brauchte.

Die Öffentlichkeit erfuhr davon zunächst nichts. Erst nach Erscheinen der "Dossier"-Recherchen im August 2019 reagierte das Ministerium.

In einer ersten Reaktion auf den kritischen Artikel ersuchte Christian Pilnacek seinen Vertrauten Johann Fuchs (Eva Mareks Nachfolger an der OStA-Spitze), die Einstellungsbegründung aus dem Jahr 2016 zu veröffentlichen, was auch geschah. "Damit würde auch die Ungenauigkeit und Einseitigkeit in der Beweiswürdigung der WKStA offengelegt. Für den Inhalt der Weisung muss man sich nicht genieren, er zeigt die Genauigkeit bei Wahrnehmung der Fachaufsicht", wie es Pilnacek in einer E-Mail an Fuchs ausdrückte – ganz so, als sei das innerhalb der Weisungskette nicht immer der Fall gewesen.

Tomaselli: "Die Sache stinkt"

Was bleibt: eine Oberstaatsanwaltschaft, die sich nach dem Besuch eines Verteidigers auffallend schnell in Bewegung setzte und eine Anklageschrift wegadministrierte, ohne der WKStA eine Chance zu geben, angebliche Defizite in der Anklage zu beheben; und ein Sektionschef, der offenbar Freude dabei empfand, die WKStA öffentlich scheitern zu sehen.

Die einstige Leiterin der Oberstaatsanwaltschaft, Eva Marek, wollte sich auf Anfrage nicht äußern. Sie verwies auf ihre Aussagen vor dem ÖVP-Korruptionsausschuss 2022, wo sie ihre damalige Vorgehensweise verteidigt und die Entscheidung des Weisungsrats hervorgehoben hatte. Dort wurde Marek von der grünen Abgeordneten Nina Tomaselli unter anderem auch gefragt, ob Benkos Anwälte damals über den vertraulichen Anklageentwurf der WKStA Bescheid wussten. Mareks Replik: "Natürlich weiß ich das nicht. Es kann sich jeder an die Fachaufsicht wenden."

Tomaselli zieht indes ein anderes Resümee: "Wir haben im letzten Untersuchungsausschuss die Akten sehr genau studiert. Im Verfahrensablauf sind so viele Auffälligkeiten, dass das nur einen Schluss für uns zulässt: Die Sache stinkt." (Michael Nikbakhsh, Fabian Schmid, 12.1.2024)