Eine Frau hält eine verwundete Katze
Odessa gilt als Katzenhauptstadt Europas. Und das, seit sie die Stadtgründer im 18. Jahrhundert einluden, den Mäusen im Hafen Respekt einzujagen.
REUTERS/Alexander Ermochenko

Nicht nur Menschen, sondern auch Tiere leiden unter den russischen Dauerangriffen auf die Ukraine – und in Odessa keine so sehr wie die lebendigen Wahrzeichen der Stadt: Katzen. Was allen voran mit der Tradition der Schwarzmeer-Metropole als Handelsknotenpunkt zu tun hat: Über Jahrhunderte hinweg sorgten die Tiere dafür, dass auf den Odessa an- und von dort auslaufenden Schiffen aus aller Welt die Ratten- und Mäusepopulation in Schach gehalten wurde. Viele der Tiere gingen in der Südukraine permanent an Land. Ihnen zu Ehren strotzt Odessa vor Katzendenkmälern. Über die Stadt verteilt finden sich über 20 entsprechende Skulpturen. Ergänzt werden sie von den Erzeugnissen dutzender lokaler Graffiti-Künstlerinnen und -Künstler.

Im Krieg erwiesen sich Odessas Katzen bisher als ebenso widerstandsfähig wie die Menschen. Was nichts daran ändert, dass sie von den Drohnen- und Raketenangriffen auch in Mitleidenschaft gezogen werden. Anlass genug für ein Gespräch mit der Tierärztin Maryna Kucherenko, einer gebürtigen Odessiterin, die sich auf das Erforschen des Verhaltens der Tiere spezialisiert hat.

STANDARD: Wenn man durch die Straßen von Odessa geht, gewinnt man unweigerlich den Eindruck, dass die Katzen die wahren Herrscherinnen und Herrscher der Stadt sind. Unterscheiden sich diese Katzen von anderen, die woanders auf der Welt in einer urbanen Umgebung leben – ohne Bedrohung durch Bomben?

Kucherenko: Vielleicht davon abgesehen, wie die Menschen in Odessa mit Katzen umgehen – ich habe in dieser Stadt extrem selten eine hungernde Katze gesehen, jeder füttert sie –, prinzipiell: nein. Wie eine Katze auf etwas reagiert, hängt weniger von der Tatsache ab, dass sie in einer Stadt lebt, sondern davon, wo genau in der Stadt. Es macht einen Unterschied, ob sie in einem ruhigen Vorort oder in der historischen Altstadt lebt. Hört eine Katze oft Geräusche wie bei einem Feuerwerk? Ist sie Menschenansammlungen gewohnt? Prinzipiell haben alle Katzen Angst vor lauten Geräuschen.

STANDARD: Wie reagieren Katzen auf die regelmäßigen Raketen- und Drohnenangriffe?

Kucherenko: Einer Katze, die Schutz sucht, ist nicht direkt bewusst, dass etwas Todbringendes wie eine Rakete oder eine Drohne auf sie zukommt. Aber sie geht automatisch davon aus, weil laute Geräusche in ihrer Wahrnehmung immer etwas potenziell Tödliches darstellen. Wenn es knallt, rennt sie los und sucht sich ein Versteck. Wie genau sie reagiert, hängt bei manchen aber auch vom Verhalten ihrer Besitzer ab. Katzen können unsere Gesichtsausdrücke nicht so lesen wie Hunde. Deshalb können sie auch nicht am Gesicht ihres Besitzers ablesen, ob ein bestimmtes Geräusch ein Grund zur Sorge ist. Aber wie mir viele Besitzer meiner Patienten in Odessa bestätigen, gibt es auch andere, die mittlerweile ruhig bleiben, solange ihre Besitzer ruhig bleiben.

Die ukrainische Katzenexpertin Maryna Kucherenko
Katzenexpertin Maryna Kucherenko musste ihre Heimatstadt Odessa verlassen.
Privat

STANDARD: Was können Menschen tun, um ihren Haustieren den Umgang mit der Situation zu erleichtern?

Kucherenko: Die beste Idee ist, alle Verstecke freizuhalten, die sie gewohnt sind, und neue zu schaffen. Jede Katze hat ein Lieblingsregal oder Ähnliches, und der Zugang dazu sollte jederzeit offen stehen. Außerdem sollte man seine Katze rechtzeitig an eine Transportbox gewöhnen. Bei einem Angriff verlassen viele Odessiter ihre Wohnungen und laufen zu den Luftschutzbunkern, und dabei muss es immer schnell gehen. Ich habe viele Geschichten gehört, wie Leute verzweifelt ihre Katze einzufangen versuchten, während es rundherum krachte.

STANDARD: Wie löst man dieses Problem? Durch Training?

Kucherenko: Ja. Katzen sind im Allgemeinen revierabhängige Wesen. Sie fühlen sich prinzipiell nicht in großen Räumen wohler, sondern eher in kleinen, aber gleichzeitig sollten sie alles über diese Räume wissen. Deshalb ist es wichtig, sie an die Transportkiste zu gewöhnen, sodass sie sie als etwas ganz Normales empfinden, wenn es schnell gehen muss.

STANDARD: Was gibt es sonst noch für Strategien für Menschen, die ihren Katzen die Angst nehmen wollen?

Kucherenko: Eine andere Möglichkeit stellt die sogenannte Desensibilisierung dar. Das klingt vielleicht aufs Erste komisch, ist aber eigentlich eine gute Sache. Alles, was man dazu braucht, ist ein Smartphone. Wenn Sie merken, dass Ihre Katze neugierig auf das Ding ist, können Sie Videos von Explosionen und Einschlägen abspielen, zum Beispiel die der Angriffe auf die Krim-Brücke. Sie fangen mit einer geringen Lautstärke an und steigern sie dann sukzessive. Bis Sie merken, dass der gewünschte Gewöhnungseffekt eintritt. Eine weitere Möglichkeit, die Effekte eines Angriffs abzumildern, besteht darin, die Situation spielerisch zu simulieren.

STANDARD: Wie?

Kucherenko: Indem man seine Katze durch regelmäßige Wiederholungen eines bestimmten Ablaufs darauf trainiert, dass sie weniger Angst bekommt, wenn der Ernstfall eintritt. Es geht um eine gewisse Vorhersehbarkeit, die die Katze stressresistenter macht, weil ihr Gehirn darauf trainiert wurde.

STANDARD: Okay, aber Explosionen sind nicht das Einzige, was bei einem Angriff passiert. Von den rot-gelben Blitzen, die mit einem Raketeneinschlag einhergehen, über das Gedröhne der Drohnen bis zu den Gerüchen von glühendem Gestein und brennendem Plastik und Holz sind auch alle anderen tierischen Sinne betroffen.

Kucherenko: Ja, und umso wichtiger ist es deshalb, wie die Katzenbesitzer darauf vorbereitet sind. Alles, was der Krieg mit uns macht, geben wir bewusst oder unbewusst weiter – an unsere Mitmenschen, aber eben auch an unsere Haustiere. Deshalb noch einmal: Jeder und jede in Odessa und im Rest der Ukraine sollte sich auf den Ernstfall vorbereiten: eine Katzentransportkiste kaufen, seiner Katze spielerisch beibringen, wie man den Stress vermindert, ihr einen Mikrochip einpflanzen, falls alle Stricke reißen und sie davonläuft, damit man sie wiederfinden kann. Mit anderen Worten: Die Menschen sollten sich immer Murphys Gesetz in Erinnerung rufen: "Alles, was schiefgehen kann, wird schiefgehen." Wenn man sich dessen bewusst ist, kann man sich zumindest entsprechend vorbereiten – zum eigenen Wohl wie zu dem seiner Haustiere. (Klaus Stimeder, 15.1.2024)