Netflix ist aktuell zweifellos einer der innovativsten und präsentesten Anbieter auf dem Streamingmarkt, wo noch dazu immer wieder neue Formate ausprobiert werden. Neben den diversen Spielserien sind dabei auch Dokumentationen ein bedeutendes Angebot. Seit Juli vorigen Jahres ist nun die sechsteilige Serie "How to Become a Cult Leader" zu sehen. Der englische Begriff "cult" entspricht am ehesten dem, was im deutschen Sprachraum mit dem Ausdruck "Sekte" assoziiert wird, und in der Tat präsentiert sich die Serie als (eher laue, aufgewärmte, x-te) Thematisierung der klassischen "Sekten"-Diskussion mit einer eher unreflektierten Schlagseite. Da hilft es auch nicht, dass für den Erzählpart der bekannte Schauspieler Peter Dinklage gewonnen werden konnte.

How to Become a Cult Leader | Official Trailer | Netflix
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Viele neue Sektendokus

Die Serie selbst steht dabei offensichtlich in einer spezifischen Tradition und bedient eine allgemeine Interessenslage, zumal es gerade in den letzten Jahren eine Reihe von Dokumentationen zu allen möglichen Gemeinschaften gab, die mit einer vergleichbaren Agenda aufwarten konnten. Netflix selbst hat beispielsweise vor wenigen Jahren in der Serie "Wild Wild Country" das verunglückte Amerika-Experiment der Gemeinschaft um Bhagwan Shree Rajneesh mit sehr eindrücklichen Material dargestellt (vgl. dazu den Eintrag im Religionswissenschaftsblog: Der "Sex-Guru" und sein gescheitertes Experiment).

Dazu kommen einige neuere Dokumentationen zu evangelikalen beziehungsweise pfingstlerischen Gemeinschaften aus dem US-amerikanischen Kontext, meistens im Zusammenhang mit größeren Skandalen, etwa den um die evangelikale Hillsong Church (The Secrets of Hillsong, gesendet auf FX, 2023), zur tragischen Geschichte der Ufo-Kontaktlergemeinschaft Heaven's Gate (Heaven's Gate: The Cult of Cults, HBO, 2020), um die schwer zu klassifizierende US-amerikanische Gemeinschaft NXIVM (Seduced: Inside the NXIVM Cult, Starz, 2020, und eben erst abgeschlossen, The Vow, zwei Staffeln, auf HBO), oder zum bizarren Fall einer US-amerikanischen Kleingemeinschaft um eine selbsternannte Mutter Gottes (Love Has Won: The Cult of Mother God, HBO, 2023).

So gesehen spiegelt diese Serie ein allgemeines gesellschaftliches Interesse an so gearteten Themen wider, was sicher auch dem Sensationspotential geschuldet ist. Das war offensichtlich auch bei der aktuellen Serie im Vordergrund.

"How to Become a Cult Leader".
Foto: Netflix

Der Inhalt von "How to Become a Cult Leader" ist schnell zusammengefasst: Alle sechs Teile haben je eine Gemeinschaft im Zentrum, die durch die titelgebende Grundthematik zusammengehalten werden: Vorgeblich und leicht ironisiert wird aus den Darstellungen quasi eine Rezeptur zusammengestellt, "wie man ein Sektengründer wird". Allerdings werden die Grundthemen recht redundant wiederholt und durch einige Fachkommentatoren, die den Zuseher die ganze Serie hindurch begleiten, zusammengehalten. Relativ gut gelungen sind demgegenüber die Einzelporträts der Gemeinschafen: Viele Episoden aus den einzelnen Darstellungen werden animiert, was durchaus reizvoll ist, weil man sich so die diversen Geschichten dieser Gemeinschaften, der Gründer und wesentlicher Entwicklungen besser vorstellen kann.

Gerade bei den Einzelporträts hat man zudem eine Reihe von wirklich hochkarätigen Spezialisten für Interviews gefunden, so dass diese spezifischen Darstellungen durchaus Gehalt haben. Allerdings werden fast durchgehend in einem viel zu schnellen Takt diverse Aussagen und Sachverhalte durch kurze Sequenzen aus zumeist relativ altem Filmmaterial ergänzt, das mit der übrigen Geschichte keinen Zusammenhang hat, sondern nur als (vermutlich ironisierend gemeinte) Illustration der Aussage herhalten. Das Ganze ergibt dann eine ziemlich überladene, zuweilen an schlechte Social-Media Videos erinnernde Hochgeschwindigkeitsabfolge von Bildern.

Übliche und unübliche Verdächtige

Hochproblematisch und äußerst unreflektiert ist allerdings die Auswahl, auf die man sich beschränkt. Die Einzelporträts behandeln nämlich sehr unterschiedliche Gemeinschaften, sowohl was die Größe als auch was deren Bedeutung betrifft. Gleich drei der Beispiele setzen sich naturgemäß mit Klassikern der traditionellen "Sekten"-Diskussion auseinander und präsentieren die denkbar dunkelsten Kapitel der jüngeren Geschichte neureligiöser Bewegungen: Sowohl die Ereignisse um den Massenselbstmord der Gemeinschaft Peoples Temple um Jim Jones in Französisch-Guyana 1978, als auch der Selbstmord der New-Age-Ufo-Kontaktlergemeinschaft Heaven's Gate 1997 und der Giftgasanschlag der neobuddhistische Bewegung Aum Shinrikyō im Metrosystem von Tokyo 1995 stellen zweifellos spektakuläre Gewaltakte dar, die sich entweder nach innen (Heaven's Gate), nach außen (Aum Shinrikyō) oder aber in beide Richtungen wendeten (Peoples Temple). Ebenfalls einschlägig ist die Darstellung der Gemeinschaft um den Musiker und Kommunengründer Charles Manson, die durch die Morde an Sharon Tate und einer Reihe von weiteren Menschen 1969 bekannt wurde.

Dazu kommen noch zwei weitere Referenzbeispiele, die allerdings von den eben genannten gehörig abweichen. Eine Episode ist der weithin unbekannten Gemeinschaft "Buddhafield" gewidmet, die sich in Hollywood um den selbsternannten "erleuchteten" ehemaligen Ballettänzer Jaime Gomez bildete. Diese Kleingemeinschaft wurde erst 2016 durch eine mehrteilige Dokumentation mit dem Titel "Holy Hell" bekannt, weil Missbrauchsvorwürfe publik wurden. Diese stehen in dieser Darstellung ebenfalls im Zentrum, doch so recht klar werden auch hier die Hintergründe dieser eigenartigen Ansammlung von Erleuchtungssuchenden um einen selbsternannten buddhistischen Lehrer in Speedo-Badehose nicht.

Gänzlich verfehlt scheint das letzte Beispiel, das in der finalen Episode präsentiert wird. Den Abschluss bildet nämlich eigenartigerweise die südkoreanische Vereinigungskirche. Letztere fällt – bei allen Kritikpunkten, die man nennen könnte – weitgehend aus dem Rahmen, weil sie de facto eine etablierte Religionsgemeinschaft ist (in Österreich etwa als sogenannte religiöse Bekenntnisgemeinschaft eingetragen). Sie ist nicht zu vergleichen mit den zuvor behandelten katastrophischen Gemeinschaften, die den Gutteil der Darstellungen ausmacht, aber sie hat auch wenig mit der Buddhafield Gruppe zu tun.

Religionsgeschichte als Kriminalgeschichte

Womit gleichzeitig auch das Problem dieser Serie markiert ist: Was rechtfertigt die Klammer und wie wenig nimmt man Rücksicht auf die individuellen Geschichten der vielen Mitglieder mit ihren sehr unterschiedlichen biographischen und persönlichen Ausgangsbedingungen? Immer wieder schimmert hinter Darstellungen, wie den hier kritisierten, das Bild vom gehirngewaschenen Sektenroboter durch, der sklavisch Anweisungen befolgt. All dies greift aber viel zu kurz und wird der Komplexität der Sachlage nicht gerecht. Nun könnte man natürlich argumentieren, dass das für einen Streaminganbieter kein Kriterium sein kann. Aber einen ein wenig sinnvolleren Rahmen hätte man sich schon erwartet.

Was allerdings den grundsätzlichen Zugang und den schon zitierten Fokus auf Sensationalismus betrifft, so scheint es mehr als bezeichnend zu sein, dass eine ähnlich gestaltete Nachfolgeserie (übrigens ebenfalls gesprochen von Peter Dinklage) gänzlich der Kriminalgeschichte gewidmet wurde: Wenige Monate nach "How to Become a Cult Leader" wurde die Serie "How to Become a Mob Boss" in ganz ähnlicher Aufmachung und Gestaltung gestartet. Damit wird recht klar, worum es geht: sicher nicht um eine sinnvolle Auseinandersetzung mit der zweifellos interessanten, aber auch hochkomplexen Thematik, sondern schlicht und einfach um einen weiteren Aufguss der klassischen "Sekten"-Klischees ohne jeglichen Anspruch auf innovative Blickwinkel und Perspektiven. (Franz Winter, 7.3.2024)