Wiens rote Verkehrsstadträtin Ulli Sima und die Grünen zanken. Wieder einmal. Darin sind sie geübt. Wird die SPÖ-Politikerin mit Versäumnissen – ob angeblichen oder tatsächlichen, sei hier dahingestellt – in ihrem Bereich konfrontiert, dann erklärt sie diese oft in scharfen Worten mit Nachlässigkeiten ihrer grünen Vorgängerinnen Birgit Hebein und Maria Vassilakou, die das Ressort von 2010 bis 2020 führten. Das regt in der in Wien oppositionellen Umweltpartei massiv auf: Gesalzene Konter folgen meist prompt.

Auf X (vormals Twitter) gipfelte eine solche Auseinandersetzung vergangene Woche in einer wilden Schlacht mit Zahlen und Diagrammen. Der Stein des Anstoßes: Aussagen Simas über die Fortschritte beim Ausbau der Radverkehrsanlagen im Vorjahr.

Doch wie weit ist Wien da tatsächlich gekommen? Der STANDARD hat nachgemessen und -gefragt.

"Faktum ist, wir haben im Vorjahr über 20 Kilometer Radwege gebaut."
Ulli Sima, "Falter"-Newsletter, 15. Jänner

Um diese Aussage zu überprüfen, braucht es zunächst einen Crashkurs in Radinfrastrukturvokabular. Wichtig ist der Unterschied zwischen Radwegen und Radverkehrsanlagen. Erstere sind baulich von Fahrbahn oder Parkspur getrennt. Sie gelten als bester, weil sicherster Typ von Radverkehrsanlagen. Unter diesen Sammelbegriff fallen etwa auch Fahrradstraßen und Radfahrstreifen oder Radfahren gegen die Einbahn.

Allerdings: Im täglichen Sprachgebrauch werden die beiden Wörter häufig nicht akkurat verwendet. Ist in Alltagssprache oder Medienberichten von "Radwegen" die Rede, sind oft Radverkehrsanlagen gemeint. Das Wort ist kürzer, weniger technisch und plakativer.

Ein Umstand, der – bewusst oder unbewusst – zu unsauberen Formulierungen hinreißen kann. So erklärt sich auch Sima dem STANDARD "Ich habe mir erlaubt, Radverkehrsanlagen unter Radweg zu subsumieren." Soll heißen: Eigentlich habe die Stadträtin 20 Kilometer Radverkehrsanlagen gemeint.

Aber stimmt die genannte Summe? Um dies zu prüfen, greifen Initiativen wie Radeln für Future und Interessierte auf X auf die online abrufbaren Rad-Bauprogramme zurück. Für 2023 listet die Stadt rund 60 Projekte im Hauptradnetz, deren Typ und Fortschritt auf. Misst man diese auf Google Maps nach und wertet sie aus, ergibt das 18,7 Kilometer Radanlagen – wobei rund 15 Kilometer fertig oder zumindest in Bau sind. Bleibt eine Lücke von fünf Kilometern zu Simas Angaben.

Im Verkehrsressort berechnet man die gebauten Radanlagenkilometer jedoch anders. Gemessen wird nicht mit Google, sondern im Stadtplan. Zusätzlich zu den fertigen oder in Bau befindlichen Projekten, die auch im Radprogramm 2023 gelistet sind, werden Projekte eingerechnet, die aus dem Jahr davor mitgenommen wurden. Eigentlich hätten die Arbeiten an diesen rund drei Kilometern Infrastruktur 2022 beginnen sollen, was wegen Verzögerungen aber nicht geschah. Sie flossen daher auch nicht in die Bilanz für 2022 ein.

Vorhaben von 4,6 Kilometer Länge, die zwar im Radprogramm 2023 angekündigt, aber doch erst ab 2024 gebaut werden, werden erst in die heurige Bilanz einkalkuliert. Was den Status der Projekte angeht, rechnet die Stadt zu ihren Ungunsten: Acht Anlagen, bei denen nur noch Bodenmarkierungen fehlen, aber sonst fertig sind, haben in der Bilanz den Status "in Bau". In Summe kommen so 20,3 Kilometer Radanlagen zusammen, an denen 2023 gebaut wurde.

Zwei Quellen, unterschiedliche Pläne, doppelte Kilometer: Den Fortschritt beim Radnetz-Ausbau zu berechnen, ist komplex.
Fatih Aydogdu/DER STANDARD

Eine Schwachstelle haben diese Kalkulationen aber: Die Stadt zählt bestimmte Kilometer doppelt. Erhält eine 300 Meter lange Straße einen Zweirichtungsradweg, zählt dieser als eine Anlage und wird mit 300 Metern in der Bilanz verbucht. Bekommt dieselbe Straße aber zwei Einrichtungsradwege, schlägt sich das als zwei Anlagen und damit als 600 Meter nieder. Für 2023 schauen so mindestens 1,5 Extrakilometer heraus.

Sima zufolge wurde diese Zählweise 2018 etabliert – unter grüner Ressortführung. Um Vergleiche – mit den Grünen – zu ermöglichen, sei man dabei geblieben. Bis dato hat die Stadt die Projektliste, die Grundlage ihrer Bilanzen ist, nicht allgemein zugänglich gemacht. Das soll sich angesichts der jüngsten Aufregung ändern: "Wir werden das künftig veröffentlichen", kündigt Sima an.

"Wir haben im Vorjahr die Rekordsumme von knapp 35 Millionen Euro investiert, fast das Vierfache von 2019."
Ulli Sima, 15. Jänner

Jährlich 20 Millionen Euro in Radverkehrsprojekte zu stecken – das hat sich die rot-pinke Stadtregierung in ihrem Koalitionspakt verordnet. Mit Ausgaben von fast 35 Millionen Euro im Vorjahr wurde diese Summe deutlich überschritten. Sofern man diese Ausgaben tatsächlich als Investitionen der Stadt sieht. Das Gros des Geldes stamme nicht aus der Rathauskasse, sondern aus dem Bundesbudget, lautet die Kritik. Es geht also um die Frage, wer hier "wir" ist.

Tatsächlich hat Wien, wie Sima selbst sagt, vom grünen Klimaschutzministerium für 2023 rund 28,9 Millionen Euro Förderungen zugesagt bekommen, um damit Radprojekte zu finanzieren. Allerdings: Erhalten habe man diese noch nicht. Derzeit zahle das Ministerium erst für 2019 und 2020 zugesagte Gelder aus. Weshalb man die 35 Millionen Euro im Rathaus daher als eigene Investition sieht. Auch unter grünen Verkehrsstadträtinnen wurden laut Aufzeichnungen der Stadt derartige Förderungen bezogen, allerdings viel geringere Summen.

Zu den Investitionen in den Radverkehr im Jahr 2019, also unter grüner Ägide, finden sich in Aussendungen und dergleichen keine Angaben. Laut einer Aufstellung von Sima betrugen sie 9,1 Millionen Euro, 2023 wurde demnach 3,8-mal so viel investiert.

"Die aufgemalten Fahrradstreifen gehören der Vergangenheit an."
Ulli Sima, 15. Jänner

Ob selbst anhand des Bauprogramms berechnet oder in der Bilanz der Stadt betrachtet: Auf die Fahrbahn aufgepinselte Streifen machten 2023 nur etwas mehr als 400 Meter aus. Deutlich anders war das noch vor ein paar Jahren: Im Rad-Bauprogramm 2017 etwa sind mehrere Fahrradstreifen gelistet. Sie gelten als unsichere Infrastruktur, die wenig geeignet ist, Menschen zum Umstieg aufs Rad zu motivieren. Radwege machen mit 11,3 bzw. 13,3 Kilometern den deutlich größten Anteil aus, gefolgt von Fahrradstraßen (3,1 bzw. 2,8 Kilometer).

Eine Frage bleibt allerdings offen: Wie viel der 2023 gebauten Infrastruktur ist gänzlich neu – also in Straßen entstanden, wo es noch keine Anlage gab? Seriös zu beantworten wäre das nur mit einem Vorher-nachher-Vergleich, der jetzt aber nicht mehr lückenlos möglich ist: Denn viele Projekte sind ja bereits gebaut. Aus der Stadt heißt es, dass man dazu keine Aufzeichnungen führe und daher auch keine Zahlen nennen könne. Erheblich sei nicht, ob neue Anlagen geschaffen würden, sondern dass qualitätsvolle Infrastruktur entstehe. (Stefanie Rachbauer, Moritz Leidinger, Michael Matzenberger, 23.1.2024)