Frau auf Hochrad in London
Fahrradfahren kann in England auf Rezept verordnet werden – auch auf dem Hochrad. Einsteiger können aber auch beim normalen Zweirad bleiben.
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"Ich brauche keine Therapie, ich brauche nur ein Fahrrad." Wer sich aufgrund der eigenen Freizeitgewohnheiten regelmäßig auf einschlägigen Social-Media-Kanälen herumtreibt, wird Meme-Sprüchen wie diesem früher oder später kaum entgehen. Tatsächlich ist die positive Wirkung des Radfahrens auf die physische und psychische Gesundheit hinreichend belegt. So sehr, dass zumindest in England die Memes bald Realität werden. Künftig dürfen Ärzte dort nämlich Radfahren und Walking als Therapiemaßnahmen verschreiben. Und dabei geht es nicht nur um gut gemeinte Ratschläge, sondern um konkrete Trainingsprogramme und -kurse, Reparaturworkshops und Leihräder inklusive.

In elf englischen Gemeinden läuft gerade ein Pilotprojekt an, das vor allem Menschen, die bisher wenig Bewegung gemacht haben, zu ebendieser bewegen soll. 13,9 Millionen Pfund (15,89 Millionen Euro) nimmt die Regierungsorganisation Active Travel England bis 2025 in die Hand. Gesunden sollen dabei nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch das Gesundheitssystem an sich, denn auch das siecht vor sich hin. Überfüllte Ordinationen und Ambulanzen sollen durch das Radfahren und Walken auf Rezept entlastet werden.

Fokus auf soziale Brennpunkte

Eine der Städte, die an dem Pilotprojekt teilnehmen, ist das in Zentralengland gelegene Nottingham. Sportliche Aktivitäten können hier nicht nur Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner verschreiben, sondern etwa auch eigens rekrutierte "Social Prescriber", erklärt Samuel Shoesmith, Projektkoordinator in Nottingham. Dabei wolle man nicht mit der Gießkanne verfahren: Vorab habe man Nottingham in acht Regionen unterteilt und das statistische Vorkommen von gesundheitsgefährdenden Faktoren untersucht. Drei Stadtteile seien dabei besonders hervorgestochen, da die dortige Bevölkerung das niedrigste Aktivitätslevel der Stadt aufweise. Auch sei dort die Lebenserwartung am niedrigsten, viele Menschen seien von "multipler Deprivation" betroffen, also etwa in den Bereichen Einkommen, Arbeit, Kriminalität oder Wohnraum benachteiligt. "Ganz spezifisch bemühen wir uns um Unterstützung für Frauen mit Schwangerschaftsdiabetes und Erwachsene mit nichtalkoholischer Fettleber. Außerdem fokussieren wir uns auf Frauen mit niedriger Lebenserwartung."

Für Rückschlüsse, wie das Programm angenommen wird und welchen Erfolg es zeitigt, sei es aktuell noch zu früh, sagt Shoesmith. Erst im Juli wurden die Gelder von der Regierung zugewiesen. Einzelne Projektteile laufen gerade an, im Frühling, passend zum Start in die neue Freiluftsaison, will man im Vollbetrieb angekommen sein. Eine Begleitstudie soll dann herausfinden, wie die Menschen das Angebot annehmen und inwieweit sie sechs und zwölf Monate danach noch immer an der regelmäßigen Bewegung festhalten.

ÖGK zeigt sich skeptisch

Ist dergleichen in Österreich vorstellbar? Bei der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) zeigt man sich zurückhaltend. Förderungen für Trainingsprogramme, insbesondere von kommerziellen Anbietern, sehe man kritisch, "weil hier sehr schnell sehr große Beträge ohne Evaluationsmöglichkeit fließen und der sogenannte Matthäus-Effekt verstärkt auftritt", heißt es auf Anfrage des STANDARD. Der Matthäus-Effekt steht für "Wer hat, dem wird gegeben". Wer also ohnehin schon gesundheitsbewusst sei und trainiere, bekomme finanzielle Zuwendung.

Würde ein entsprechendes Projekt breit gestreut, werde soziale Ungleichheit weiter verstärkt. Und am Ende käme ein großflächiger Einsatz einfach zu teuer. Neue Zielgruppen ließen sich über "gezielte Programme und das damit zusammenhängende Marketing" besser erschließen. Mit den gezielten Programmen meint man bei der Gesundheitskasse etwa das Programm "ÖGK bewegt", das Bewegungskurse in öffentlichen Parks ("Bewegt im Park"), Webinare und Vorträge oder Projekte in Schulen und Betrieben beinhaltet.

"Hilft gegen alle Krankheiten, die unsere Bevölkerung umbringen"

Was aber kann man überhaupt von einem Pilotprojekt wie dem in England erwarten? Viel, sagt Robert Fritz, Allgemeinmediziner und ärztlicher Leiter des Zentrums für Gesundheit, Sportmedizin, Ernährung, Sportwissenschaften und Trainingstherapie in der Sportordination in Wien. "Bewegung hilft gegen alle Krankheiten, die unsere Bevölkerung derzeit zum Großteil umbringen." Das sind zum einen die Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Da helfen Gehen und Radfahren, Gewicht zu reduzieren, Blutdruck und Blutfettwerte in den Griff zu bekommen, Blutzucker zu senken und Typ-2-Diabetes zu verbessern. Sie hilft aber auch bei Stressbelastungen bis hin zur Depression. Präventiv trägt sie dazu bei, neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer möglichst lange hinauszuzögern. Auch nach einem Herzinfarkt ist es ratsam, zur Rehabilitation schnell wieder mit Bewegung zu beginnen. "Eigentlich ist Bewegung die Polypille, nach der Medizin und Pharmaindustrie schon lange suchen."

Als Mindestanforderung gelten dabei 150 Minuten Bewegung in der Woche, die sich mit Radfahrten zur Arbeit oder Erledigungen zu Fuß gut in den Alltag einbauen lassen – um das häufige Argument, nämlich zu wenig Zeit, zu entkräften. Dazu kommen zweimal die Woche Kräftigungsübungen. Mehr ist freilich immer möglich.

Robert Fritz, Sportordination Wien
150 Minuten Bewegung hält Allgemeinmediziner Robert Fritz schon für ausreichend. Sie lassen sich gut in den Alltag integrieren.
Sportordination

Unwissen und Überforderung – auch bei Ärzten

Woran es krankt, sind nicht nur Ausreden wie das Zeitargument. Unwissen und Überforderung, wie genau die Bewegung gestaltet sein soll, betrifft Patientinnen und Patienten, teilweise aber auch Ärztinnen und Ärzte selbst. Wie oft, wie intensiv, wie lange sollte ich mich bewegen? Ist Radfahren besser als Walken oder Fußballspielen? Wie steigere ich Belastungen? Ist ein Arzt selbst nicht tief im Thema drin, ist er mit seinem Lehrbuchlatein schnell am Ende. Im Rahmen eines Besuchs in einer überfüllten Kassenordination oder bei einer Vorsorgeuntersuchung ist oft auch gar nicht die Zeit, solche Fragen zu klären. Dass sich in Österreich weder ÖGK noch Krankenhäuser für Gesundheitsprävention wirklich zuständig fühlen, mache die Sache nicht einfacher.

Das will Fritz ändern. Gemeinsam mit Kollegen arbeitet er an einer App, die Bewegung trackt und Bewegungsempfehlungen abgibt. "Wichtig ist, dass es die Option gibt, bei Bewegungslevel null zu starten. Es bringt nichts, gleich mit einem Lauftrainingsplan für fünf Kilometer in 35 Minuten loszulegen. Das ist für den Durchschnittsösterreicher nicht realistisch." Starten soll die App namens Straide im Frühjahr 2024. Das Ziel bestehe darin, dass Krankenkassen das Programm in ihre Vorsorgeuntersuchung einbauen. Voraussetzung dafür, dass solche Projekte – ob nun in England, Österreich oder anderswo – wirklich Erfolg bringen, sei aber jedenfalls ein Umdenken, meint Fritz: "Gesundheitsversorgung ist nicht selbstverständlich, sondern Eigenverantwortung. Ich kann als Arzt nicht für jemand anderen Bewegung machen. Umsetzen muss man es immer selbst." (Michael Windisch, 18.12.2023)

Video: Die Geschichte des Fahrrads.
DER STANDARD