Die ersten Tests mit Tempo 30 machte man in Graz bereits in den späten 1980er-Jahren – und aus diesen Erfahrungen zog man gleich mehrere Lehren. Da war einmal die, dass Tempo 30 grundsätzlich eine gute Idee sein dürfte, wenn man die Lebensqualität erhöhen und die Unfallzahlen senken möchte. Dann war da aber auch die Erkenntnis, dass ein bisserl besser leben und ein wenig weniger sterben einen Autofahrer, der sich gerade noch der Gurtpflicht ergeben hat, nicht von allein überzeugen. Also war an eine großflächige Einführung von Tempo 30 nicht zu denken. Zumindest war das der Eindruck, der damals entstand.

Eine Verkehrstafel, die eine Tempo-30-Zone ausweist.
Graz war Vorreiter bei flächendeckend Tempo 30 außer auf Vorrangstraßen. Inzwischen haben Gemeinden und Regionen in ganz Europa von den Erfahrungen aus der Steiermark profitiert und ähnliche Limits eingeführt. In Graz gilt aktuell auf rund 80 Prozent der Straßen Tempo 30. Künftig werden es noch mehr sein.
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Gleichzeitig hatte Graz mit mehreren Problemen zu kämpfen. Die historische Stadt war nie für den Autoverkehr geplant und ausgelegt, was zu Verkehrsbehinderungen führte. Die Stadt wuchs, der Verkehr nahm zu, was zu noch mehr Staus führte – auch die Luft in der Stadt wurde immer schlechter. Graz liegt in einem Kessel, dessen Deckel eine Abgaswolke bildete. Es musste also etwas geschehen. Und Tempo 30 war trotz aller Widerstände die vielversprechendste Idee. Also musste man sich etwas einfallen lassen. Und das Ergebnis war eine zweijährige Pilotphase, die 1992 begann und an deren Ende eine Abstimmung durch die Bevölkerung stehen sollte. Dazwischen fanden diverse wissenschaftliche Untersuchungen statt.

Fliegende Fetzen

Vom "Terror gegen Autofahrer" sprach die FPÖ damals, erinnert sich die aktuelle Verkehrsstadträtin Judith Schwentner (Grüne). Nicht nur von rechts flogen anfangs die Fetzen. Kurz vor Beginn der Testphase, im August 1992, ergab eine Untersuchung, dass lediglich 44 Prozent für Tempo 30 in Graz sind. Aber der Plan der Stadtregierung ging auf: Weil nach zwei Jahren ein Ende absehbar war, über das man selbst entscheiden durfte, konnte das Projekt über die Bühne gehen – Tempo 30 in ganz Graz, außer auf Vorrangstraßen. Und man startete sanft.

So wurden die neuen Tempolimits zwar gut kontrolliert, statt Strafen gab es am Anfang aber Hinweise der Exekutive oder Zitronen von Kindern. Der Erfolg war sehr rasch bemerkbar. Die Unfälle mit Personenschaden sanken auf der Stelle von 2.543 im Jahr 1991 auf 2.028 im Jahr 1994. Die Anzahl der bei Verkehrsunfällen getöteten Personen halbierte sich nach der Einführung von Tempo 30 gar. Erst als die Exekutive 1997 Geschwindigkeitsübertretungen strenger bestrafte, stiegen die Unfallzahlen wieder bis zum Anfang der Nullerjahre. Seit damals sanken die Unfallzahlen wieder. 2022 wurden 668 Unfälle mit Personenschaden in Graz registriert. Direkt vergleichen kann man die Zahlen aber nicht. Nahm in der Zwischenzeit nicht nur der Verkehr zu, wurde 2018 auch die Erfassung der Unfalldaten auf neue Beine gestellt.

Durchschnittsgeschwindigkeit kaum gesunken

Die Durchschnittsgeschwindigkeit in der Stadt sank von 37,1 km/h auf 36,6 km/h, das Verkehrsverhalten aller Teilnehmer hat sich signifikant verbessert; Autofahrerinnen und Autofahrer waren auf einmal rücksichtsvoller, Fußgängerinnen und Fußgänger fühlten sich wohler – sie traten selbstbewusster auf, könnte man sagen. Radfahrende wurden nur mehr halb so oft überholt wie vorher – und dennoch haben sich am Anfang weder die Anteile der Menschen, die zu Fuß gehen, noch jene, die mit dem Rad fahren, im Vergleich zu denen, die mit dem Auto unterwegs sind, groß verändert. Die Studienautoren führten das auch darauf zurück, dass Zufußgehen und Radfahren schon vor der Einführung von Tempo 30 sehr beliebt war.

Auch keine bemerkenswerte Veränderung gab es auch beim Spritverbrauch und der Reduktion der Schadstoffe in der Luft – zumindest wenn man das ganze Stadtgebiet betrachtete. Lediglich die Stickoxide nahmen um 24 Prozent ab, in Tempo-30-Straßen sogar um 32 Prozent. Interessant auch die Erkenntnisse, was die Lärmbelästigung betrifft. Die nahm ab – gemessen um 1,9 dB(A), in der Wahrnehmung der Menschen aber sogar deutlich.

Am Ende der Pilotphase lag die Zustimmung der Bevölkerung für Tempo 30 bei 77 Prozent, und sie ist danach weiter gestiegen. Graz fing an, sich als Vorbild anzutragen. Dornbirn etwa oder Leoben folgten dem Beispiel der zweitgrößten Stadt in Österreich. Aber auch international schaute man sich die Idee nicht nur an, sondern auch ab. "Grenoble, Helsinki, Lille, Zürich, Brüssel oder Barcelona sind dem Beispiel gefolgt", heißt es vom Verkehrsclub Österreich (VCÖ). 2021 wurde in Spanien als erstem EU-Staat "landesweit Tempo 30 im Ortsgebiet auf Straßen mit einer Kfz-Fahrbahn je Richtung, Tempo 20 auf Straßen mit nur einer Fahrbahn" eingeführt.

Die lauten 20 Prozent

Inzwischen gelten auch in Wales erstmals 20 Meilen pro Stunde, umgerechnet rund 32 km/h, als neue Norm für Straßen, auf denen viele Fußgänger unterwegs sind – wo bisher 30 Meilen pro Stunde erlaubt waren. "Anfangs fühlt es sich seltsam an, mit 20 Meilen pro Stunde zu fahren. Man braucht ein paar Wochen, um sich an das weniger stressige Fahren zu gewöhnen", sagte sogar der stellvertretende Minister für Klimawandel, Lee Waters. Aber er ist der Überzeugung, dass sich alles normalisieren wird. Auch statt auf Strafen setzt er auf Schulkinder, die Menschen, die zu schnell fahren, auf den Fehler aufmerksam machen. Doch auch er hat es mit den Gegnern der Maßnahme nicht immer ganz leicht: "20 Prozent mögen diese Maßnahmen nicht. Leider sind sie unverhältnismäßig laut."

In Graz plant man inzwischen den nächsten Schritt rund um Tempo 30, der erst durch die kommende Novelle der Straßenverkehrsordnung (StVO) möglich wird. Musste man bislang mit Gutachten nachweisen, dass ein Tempo-30-Limit die Verkehrssicherheit erhöht, reicht es künftig festzustellen, dass dies der Fall ist, etwa weil an einem Abschnitt viele alte oder junge Menschen unterwegs sind. Rund um zwei Schulen hat man ein 30er-Limit schon bisher ohne Gutachten, also quasi illegal gemacht – was auch prompt ein Anwalt ausnutze, der mehr als einmal dort ins Radar fuhr und die Strafe beeinspruchte, weil das Tempolimit nicht dem Gesetz entspreche.

"Wir müssen das mit Augenmaß machen", erklärt Schwentner die geplante Ausweitung von Tempo 30 in Graz. "Wo die Flüssigkeit des Verkehrs notwendig ist, wie am Gürtel, da bringt eine Temporeduktion nichts." Wenn sie auch festhält, dass die Sicherheit vor allem der Kinder und älteren Menschen vorgehe. Aktuell gilt auf rund 80 Prozent der Straßen in Graz Tempo 30. Und mehr werden es allein dadurch, dass mehrere Straßen aus dem Vorrangstraßen-Netz genommen werden und dann dort automatisch ein 30-km/h-Limit gilt. Zuletzt ist das in der Korösistraße passiert. Aus den 90er-Jahren habe man gelernt, sagt Schwentner, "dass es wichtig ist, zu kommunizieren, warum man etwas macht. Wir wissen, dass wir mit vielen Themen polarisieren. Verkehr verändert sich, und dafür brauchen wir Langmut." Heute sei Graz weiter als andere Städte, und flächendeckend Tempo 30 "hat zu einer eklatanten Reduktion der Unfälle geführt". (Guido Gluschitsch, 21.1.2024)