Alexander Giesche
Mit dem Handy spielen ist das Gegenteil von sinnieren. Letzteres aber will Alexander Giesche in seinen Theaterarbeiten herbeiführen.
Eike Walkenhorst

Wer als Zehnjähriger bei einem Michael-Jackson-Konzert war, ist für die Theaterwelt auf ewig verloren, könnte man meinen. Denn wie soll ein solcher je mit dem Angebot des Stadttheaters zufrieden werden, wenn andernorts ein Rockstar mit einer Rucksackrakete in den freien Himmel davonfliegt? Alexander Giesche war damals 1992 im Olympiastadion in München dabei – und hat die Kurve gekriegt.

Heute gehört er zu den gefragtesten Regisseuren des deutschsprachigen Theaters, weil er der Bühne ungewöhnliche Dinge abverlangt, weil er selbst Aufführungen auf ganz eigene Weise rezipiert und damit eine unverwechselbare Kunst geschaffen hat. Mit einer umwerfenden Meditation über Max Frischs Endzeiterzählung Der Mensch erscheint im Holozän ging es 2020 erstmals zum Berliner Theatertreffen.

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Alexander Giesche, 1982 in München geboren und in der "kollektiven Leichtigkeit der 1990er-Jahre" aufgewachsen, stellt keine Popkonzerte nach. Aber er erzeugt eine Bühnensituation, die das Publikum in eine traumwandlerische Konzentration mit hineinzieht. "Mich hat früher schon immer eher die Popreferenz im Theater interessiert als die Theaterwelt an sich. Deshalb mache ich Popkonzert-Recherchen". Schon seit dem Michael-Jackson-Moment will Giesche selber "am Theater immer etwas erleben".

Startpunkt Popsong

Seine Arbeit startet also eher nicht bei einem Text, wie das am Theater meist üblich ist, sondern zum Beispiel bei einem Popsong. Für das Volkstheater, das ihn nun (endlich) erstmals nach Österreich bringt, hat ihn aber doch eine Textvorlage gereizt, und zwar der Science-Fiction-Roman Die Angestellten der gerade mit ihrem zweiten Buch durchstartenden dänischen Autorin Olga Ravn. Das Buch erzählt von Arbeitsverhältnissen auf einem Raumschiff im 22. Jahrhundert.

Giesche eignet keine spezielle Sci-Fi-Vorliebe, doch ist eine ausgefeilte Technik Grundbestandteil seiner Arbeiten. Das Besondere: Giesche leitet aus den technischen Möglichkeiten keine Megashows ab, sondern generiert Sinnlichkeit. Am ehesten verwandt der Kunst eines Robert Lepage. Giesche wird deshalb als Zeitdehner bezeichnet, als Beherrscher des Raums, als ein Regisseur, der mit maschineller Ästhetik Atmosphären schafft.

Gattung: Visual Poem

Wie nennt man diese Bühnengattung? Das hat sich Alexander Giesche selbst am Beginn seiner Laufbahn gefragt. Nach Studien der angewandten Theaterwissenschaft in Gießen und später an der DasArts School in Amsterdam erschienen ihm weder der Begriff des Schauspiels noch die allgemeine Bezeichnung Performance für seine Arbeiten passend. Also erfand er für sich ein eigenes Genre, das Visual Poem. Seither hielt dieses neue Label im Windschatten des Namens Giesche auf allen Theater-Websites und in Medienberichten geradezu bereitwillig und aufatmend Einzug. Endlich etwas Neues!

Das ist kein Etikettenschwindel. Denn Giesche bringt etwas Frisches ins Theater, und zwar das "Sich-Verlieren". Er geht weg vom Primat des Intellekts und hin zu mehr Freiheit in der Rezeption. Was aber nicht bedeutet, dass die Abende intellektuell nicht herausfordern würden. Sie sind eben nur offen gehalten in alle Richtungen. Im Gespräch mit dem STANDARD verdeutlicht er das: "Es geht nicht ums Verstehen, sondern ums Assoziieren, ums Nachspüren, ums Fühlen. Ich wünschte, das Publikum schaut so auf die Bühne, wie ich Gedichte lese." Giesches Ziel ist es, Themen sinnlich greifbar zu machen. Zum Beispiel über Düfte, wie er das im Vorjahr etwa bei Kae Tempests Essay Verbundensein (über eine Gesellschaft des Miteinanders) im Theater Bremen gemacht hat, wo nach den Bissen in die Zitrone saalweit Zitronenduft verströmt wurde.

Entspanntes Schauen

Auch Lichtstimmungen können zum Ereignis werden, eine Technik, die nun auch bei der Volkstheater-Premiere am Freitag (26. 1.) zentral sein wird. Hier arbeitet Giesche mit Lasertechnologie. Und ist sich sicher: "Darüber werden die Kids sprechen." Auch wenn sich vorne Figuren herumtreiben und sich Handlungen vollziehen, so steht für den hoffnungsfrohen Theatermacher doch vor allem das Interesse an Zuständen im Vordergrund. Dieses Bekenntnis öffnet viel Freiraum, und einmal umgesetzt, vermag es auf seine Weise auch einen Link zu legen vom althergebrachten Literaturtheater zu neuen, weniger realitäts- oder handlungsgetriebenen Formen.

LuzernerTheater

Giesche etabliert das Theater also als Raum zum gemeinsamen Sinnieren. Es eignet sich "als Versammlungsort für kollektive Trauer oder kollektive Euphorie", sagt er. Wie einst die Kirche – wobei Giesche hier nicht die Religion meint, sondern das Ritual des gemeinsamen Abschweifens. "Ich gucke gerne hin und sehr gerne auf Details. Es geht mir darum, in ein entspanntes Schauen zu kommen, in dem ich frei assoziieren kann."

Zum genauen Hinschauen hat Giesche bereits vor zwölf Jahren bei einem Gastspiel in Wien animiert, bei der Zeitlupenperformance Black or White im Brut. Dafür, dass er erst jetzt erstmals hier arbeitet, verbindet ihn bereits einiges mit der Stadt. In Wien hat Giesche seine allererste Theatererfahrung gemacht. Im Alter von vier Jahren saß er im Theater an der Wien im Musical Cats, ein Erlebnis, das den Gästen seiner Eltern viele schöne Wohnzimmereinlagen bescherte. (Margarete Affenzeller, 23.1.2024)