Bevor Programme zu ihren eigenen Museen werden, braucht es Reformen. Ö1 steht eine solche Reform mit 5. Februar ins Haus. Sie bringt eine begleitende Tagesmoderation von 9 bis 18 Uhr, eine kleine Revolution für den Info- und Kultursender. Sie bündelt Gesundheit, Wissenschaft, Religion, Talk, Literatur um 16 Uhr, widmet "Punkt eins" der Wissenschaft und gibt Zeitgenössischem einen Fixplatz um 23 Uhr. Radiohund Rudi geht in Pension.

Gerade das Ö1-Publikum, aber auch die Belegschaft reagiert auf Reformen bisweilen irritiert, etwa als der Sender 2022 binnen weniger Monate 900.000 Euro einsparen sollte und viele Sendungsmarken infrage gestellt waren (die eiligen Vorgaben wurden zurückgenommen). Lahner rechnet "in Summe mit positivem Echo" für die anstehende Reform: "Ich glaube, auch das Publikum ist neugierig auf Neues." Und: "Wir schütten hier nicht das Kind mit dem Bade aus."

Im STANDARD-Interview erklärt Lahner ihre Reform – und schweigt über ihre Wunschnachfolge ab 1. November an der Senderspitze: "Bei Ö1 gibt es nicht das System der Habsburger, die eigene Nachfolge zu bestimmen." Aber klar ist für sie: "Diese Person muss ein stabiles Gemüt haben."

Als Ö1-Chefin sollte man
Als Ö1-Chefin sollte man "ein stabiles Gemüt haben", sagt Senderchefin Silvia Lahner.
Ö1 Joseph Schimmer

"Man muss überprüfen, ob Formate zu ihren eigenen Museen werden"

STANDARD: Veränderungen am Ö1-Programm führen üblicherweise zu Aufregung beim Publikum. Sie bauen Ö1 doch recht umfassend um. Sind Sie mutig oder übermütig?

Lahner: Veränderungen machen immer ein bisschen Sorge. Aber Radiomachen ist generell eine Art utopisches Unterfangen. Alles, was man macht, richtet sich in die Zukunft, und man kann nur ahnen und hoffen, dass man aufgrund von Erfahrung das Richtige macht.

STANDARD: Warum jetzt die Reform?

Lahner: Auch das beste Radioprogramm funktioniert nur für einen gewissen Zeitraum. Man muss lange laufende Formate überprüfen, ob sie nicht zu ihren eigenen Museen werden. Bevor das passiert, muss man Formen und Formate neu erfinden, ohne das Erreichte über Bord zu werfen. Sich der Zeit anpassen, ohne sich dem Zeitgeist zu unterwerfen.

STANDARD: Das heißt, Ö1 stand an der Kippe zum Museum?

Lahner: Nein, ganz und gar nicht, das war ein allgemeiner Befund. Die letzte Überprüfung gab es 2016/2017.

"Es gibt den Punkt, wo Skepsis in Neugierde umschlägt"

STANDARD: Umbauten an Ö1 können nach bisheriger Erfahrung nicht nur das Publikum aufregen, sondern auch die Belegschaft.

Lahner: Vieles, was nun neu ist, haben wir gemeinsam mit den Redaktionen und Abteilungen erarbeitet. Wir haben lange daran gearbeitet. Nicht alle haben sofort Hurra geschrien. Aber es gibt den Punkt, wo Skepsis in Neugierde umschlägt. Diesen Punkt haben wir gut genützt.

STANDARD: Eine der markantesten Änderungen ist die Tagesmoderation von 9 bis 18 Uhr, eine Stimme begleitet durch den Tag und von Sendung zu Sendung. Ein Schritt Richtung Flächenradio?

Lahner: Niemand hat vor, Ö1 zu einer Kulturfläche aufzumachen. Wir haben von deutschen Sendern gelernt, dass da Vorsicht geboten ist. Die Moderation zeigt: Hier ist jemand, live im Ö1-Haus, und vermittelt Kontinuität. Dazu braucht man eine Tagesbegleitung. Radio ist mehr als die Summe der Sendungen.

STANDARD: Das heißt, ich werde in den Sendungen nicht mehr begrüßt und verabschiedet?

Lahner: Hören Sie einen Tag durchgehend Ö1, da begrüßen und verabschieden Sie ganz, ganz viele Menschen. Und dabei geht es weit mehr um die nächsten Sendungen dieses Formats und nicht um die Sendungen, die sich unmittelbar anschließen. Das übernimmt nun die Tagesmoderation.

STANDARD: Wer begleitet das Publikum da durch den Tag?

Lahner: Wir haben ein Sample von zwölf Kolleginnen und Kollegen, die aus den Programmen kommen. Etwa Monika Kalcsics, die in der Wissenschaft, im "Radiokolleg" tätig ist. Oder zum Beispiel Bernhard Fellinger, Sarah Kriesche, Peter Waldenberger von "Diagonal". Stimmen, die man aus dem Radio kennt.

Auch podcasttauglich

STANDARD: Die Vielzahl von Sendungsformaten haben Sie gestrafft. Musikformate am Vormittag bekommen einen einheitlichen Namen, um 16 Uhr bündeln Sie bisher verstreute Sendungen zu Wissenschaft, Literatur, Religion, Gesundheit thematisch.

Lahner: Es wird übersichtlicher, wenn man ein kompaktes Gesundheitsmagazin hat und nicht zwei kleinteilige, auch die Religion hat sich dazu entschlossen. Die "Tonspuren" am Dienstag setzen auf ein neues Format neben Features über einen Autor oder eine Autorin: Wir bringen zwei Autorinnen und Autoren zusammen, die an einem von ihnen gewählten Ort über weitergehende Themen sprechen. Über das Genre, über das weiße Blatt, darüber, was Literatur will und kann. Für jüngere Autorinnen und Autoren stellen sich vielleicht ganz andere Fragen, als wir Sendungsmacherinnen und -macher im Kopf haben. Die Pilotfolge mit Barbi Marković und Clemens Setz hat gezeigt, das ist Literaturvermittlung auf einer anderen Ebene, auch podcasttauglich.

STANDARD: Auf diese Podcasttauglichkeit achtet die Reform von Ö1 sehr stark. Ö1 auf der Spur einer jüngeren Zielgruppe?

Lahner: Studentisches Publikum findet unsere Inhalte in unseren Studien super – aber sie finden uns nicht. Wir wollen in der Podcastwelt mit unseren Inhalten punkten. Zuletzt haben wir mit "Wilma. Die unerklärlichen Kräfte eines Dienstmädchens", einer Gemeinschaftsproduktion von Religion und Wissenschaft, als Podcast die Apple-Charts gestürmt. Das kann man nur punktuell machen, aber wenn wir es machen, müssen wir es gut machen. Wir werden natürlich kein Jugendsender. Wir wollen Programminhalte anbieten, die auch junge Menschen interessieren; sie finden sie nur derzeit nicht, weil sie kein Radio mehr haben.

STANDARD: Sie fluten alle Podcast-Plattformen – oder gibt es auch die Ö1-App weiter oder nur noch "ORF Sound"?

Lahner: Die Ö1-App wird es weiter geben, ebenso eine intensive Zusammenarbeit mit Sound. Weiteren Entwicklungen will ich nicht vorgreifen.

STANDARD: Mit dem Ö1-Nachtprogramm liefern Sie jedenfalls auch gleich Playlisten für die ORF-Audiostreaming-App "Sound".

Lahner: Beim Musikprogramm in der Nacht gab es aus meiner Sicht Handlungsbedarf. Wir nennen unser Angebot jetzt Ö1-Nachtmusik, schauen, was wir an Jazz, klassischen Konzerten, RSO-Mitschnitten im Archiv haben. Daraus bauen wir ein schönes Nachtprogramm, auch mit "Notturno" der europäischen Rundfunkunion EBU. Daraus entstehen Playlists für Sound, wie aus allen Musiksendungen des Unternehmens. Sonntagabend haben wir jetzt eine lange Musikfläche, unter anderem unter dem Label Ö1-Hausmusik, Künstlerinnen und Künstler spielen bei uns im Ö1-Haus.

"Unser Publikum ist da noch nicht im Bett"

STANDARD: Formate wie "Zeit-Ton" haben Sie in eine Sendeleiste werktags um 23 Uhr verlegt.

Lahner: Vielleicht nicht die Primetime, aber unser Publikum ist da auch noch nicht im Bett. Wir werden da mit der "Sound Art"-Schiene von Montag bis Freitag zeitgenössische Kunst auffindbar machen, Musik, Lyrik und Audiokunst – vormals Kunstradio.

STANDARD: Und was wird daraus?

Lahner: "Kunst zum Hören" wird ein diskursives Format. Nicht nur mit Hörstücken, sondern auch einer Einordnung durch Gespräche und Interviews etwa.

"Wuff, wuff"

STANDARD: Ich muss auf ein Detail kommen, das polarisiert wie wenig anderes …

Lahner: Wuff, wuff.

STANDARD: Genau. Warum haben Sie "Rudi, der Radiohund" denn abgedreht?

Lahner: Es gibt eine Flottenstrategie des ORF, die festlegt, welcher Sender und welche Plattform welche Zielgruppen bespielt. Da widmen wir uns, vermutlich nicht ganz überraschend, Menschen ab 35 Jahren. Und es gibt seit Jahresbeginn das Streamingangebot ORF Kids, das mit Bewegtbild begonnen hat und Ende des Jahres auch mit Audios arbeiten wird. Die "Kinderuni" war ein tolles Format. Aber wenn es eine Plattform für Kinder gibt, wird man Angebote für die Zielgruppe dort konzentriert machen.

Im Hinterzimmer von Ö1

STANDARD: Was kann man denn vom neuen "Ö1 Hinterzimmer" erwarten, das sonntags um 18.15 Uhr läuft? Ö1 erklärt sich selbst?

Lahner: Nicht alleine Ö1. Es wird ein Gesprächsformat mit Kolleginnen und Kollegen von Ö1, aus dem Newsroom, von Ö3 oder FM4. Was treibt uns an, was bewegt uns, warum spielen wir dieses Konzert, obwohl im Musikverein etwas anderes Premiere hat? Was macht Andreas Pfeifer im "Pasticcio", der ist doch Korrespondent in Berlin? Man kann ein bisschen mehr über die Menschen erfahren, die den Sender und den ORF ausmachen.

STANDARD: Die werktägliche Gesprächssendung "Punkt eins" soll nicht mehr so breit angelegt werden, quasi nicht mehr das Prinzip dies und das …

Lahner: … nur mehr das (schmunzelt). Die Sendung wird sich von ihrem bisherigen Konzept des sehr heterogenen Themenangebotes verabschieden. "Punkt eins" wird inhaltlich gestrafft und soll sich sehr stark wissenschaftlich orientieren. Direkt danach kommt ja auch "Wissen aktuell".

STANDARD: Wenn Sie am 5. Februar den Schalter zum neuen Ö1 umlegen: Was wird Ihr Publikum dazu sagen?

Lahner: Ich glaube, auch das Publikum ist neugierig auf Neues. Das heißt nicht, dass es nicht einen Prozentsatz geben wird, der die Tagesmoderation nicht notwendig finden oder die "Tonspuren" am Sonntagabend vermissen wird. Aber in Summe wird diese Reform ein positives Echo haben. Wir schütten hier nicht das Kind mit dem Bade aus, sondern versuchen kleine Adaptierungen, die aus unserer Sicht an der Zeit sind. Und der Abschiedsschmerz von "Rudi" wurde, glaube ich, schon im Herbst abgearbeitet. Aber vielleicht kommt da noch eine Welle.

"Das Sparszenario wäre ein anderes, sehr düsteres gewesen"

STANDARD: Im Herbst 2022 sorgten Pläne für Einsparungen und Änderungen bei Ö1 für eine große Aufregung. Haben Sie die damaligen Sparüberlegungen nun mit dieser Reform umgesetzt?

Lahner: Das Sparszenario wäre ein anderes, sehr düsteres gewesen.

STANDARD: Sparvorgaben und das Klagen darüber hört man praktisch immer aus praktisch allen Bereichen des ORF. Nicht bei Ö1?

Lahner: Wir haben hier ein ehrliches Gespräch geführt zum Thema: Was können wir leisten, was schaffen wir? Da ging es um unsere Kapazitäten und Möglichkeiten. Darüber haben wir im Sender einen sehr offenen Diskurs. Wir hatten vor, etwas weniger zu machen. Der Ehrgeiz des ganzen Senders hat dazu geführt, dass das nicht ganz so funktioniert hat. Natürlich sind wir ständig mit Einsparungen konfrontiert. Man kann nur mit dem arbeiten, was man hat. Das versuchen wir bestmöglich – Geld und Personal – einzusetzen und kommunizieren ehrlich darüber.

STANDARD: Im ORF und besonders bei Ö1 machen freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer wieder auf ihre prekäre Beschäftigungssituation aufmerksam, die etwa im Sinne des Produkts viel mehr arbeiten, als sie bezahlt bekommen. ORF-Chef Roland Weißmann hat eine Bereinigung dieser Situation angekündigt. Wie ist der Stand bei Ö1?

Lahner: Ein Modell für freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist in Ausarbeitung und sollte in den nächsten Monaten greifen.

STANDARD: Aber ohne freie Mitarbeit würde Ö1 nicht funktionieren.

Lahner: Da würde das ganze Haus nicht funktionieren. Was freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier beitragen, ist schon auch ein Fenster zur Welt.

"Muss ein stabiles Gemüt haben"

STANDARD: Sie werden nach meinem Wissensstand 2024 in Pension gehen.

Lahner: Sie tasten sich sehr vorsichtig an mein Geburtsdatum heran. Ich werde Ende Oktober 65. Bis zum 31. Oktober 2024 fühle ich mich hier für alles verantwortlich. Ich bin ab 1. November weg. Man muss den Sender so übergeben können, dass man guten Gewissens sagen kann, man hat die Probleme, die bei der Tür hereinkamen, so gelöst, dass der oder die Nächste gut übernehmen kann.

STANDARD: Wie sieht der oder die ideale Chefin von Ö1 aus, wenn Sie nicht mehr zur Verfügung stehen?

Lahner: Es muss eine Person sein mit Herz für das Informations- und Kulturradio, mit Verständnis für die Zeitläufe, die ein Kulturradio immer mitdenken muss. Und diese Person muss ein stabiles Gemüt haben.

STANDARD: Wem würden Sie gerne diesen Sender, der Ihnen so wichtig ist, gut übergeben?

Lahner: Das liegt nicht in meiner Hand. Bei Ö1 gibt es nicht das System der Habsburger, die eigene Nachfolge zu bestimmen. (Harald Fidler, 26.1.2024)