Es gibt heute kaum etwas Schwierigeres als mit Empathie, aber gleichzeitig ausgewogen über Antisemitismus zu schreiben. So meinten Doron Rabinovici und Natan Sznaider in ihrem Vorwort zum 2019 erschienenen Sammelband "Neuer Antisemitismus": "Sobald über Antisemitismus kommuniziert wird, sieht man sich zumeist in einer fatalen Dichotomie zwischen Alarmisten und Leugnern gefangen." Das hat sich auch durch die jüngsten Ereignisse im Nahen Osten nicht geändert.

Der am 7. Oktober des letzten Jahres durch eine furchtbare Attacke der Terrorgruppe Hamas entfachte Krieg und die Reaktion Israels darauf hat rund um die Welt sowohl zu Protesten gegen die Hamas, aber auch zu Solidaritätskundgebungen für die Palästinenser geführt. Nicht immer wurde dabei zwischen dem palästinensischen Volk und der Hamas, die sich berufen fühlt, die Palästinenser auch mit terroristischen Methoden zu verteidigen, unterschieden. Dasselbe gilt für die israelische Seite. Oftmals wurde Israel beziehungsweise die jetzige israelische Regierung und die von ihr unterstützten radikalen Siedler und das jüdische Volk generell in einen Topf geworfen. Will man aber nicht in die Falle der unbegründeten Vorurteile tappen, muss man sich aus diesem Geflecht aus oft unreflektierter Kritik und vorschnellen Beurteilungen befreien.

Aufnahme einer Demonstration, Frau hält Schildt
Will man Antisemitismus nicht nur vermeiden, sondern auch aktiv dagegen vorgehen, ist es gerade im Kontext des Gazakrieges wichtig, ihn in seiner Gesamtheit zu verstehen.
IMAGO/IPON

Die Bedeutung des 7.Oktober 

Der terroristische Angriff vom 7. Oktober 2023 bedeutet sicher eine Zäsur in der Geschichte Israels. Die israelische Soziologin Eva Illouz, die für ihre Kritik an der israelischen Politik gegenüber den Palästinenser bekannt ist, befürchtet, "dass die Folgen für Israel schlimmer sein werden als die Folgen von 9/11 für die USA." Und sie bedauert mit Recht, dass viele – auch manche "Linke" – im Westen die Rolle der Hamas als "barbarische völkermörderische Organisation" nicht erkannt haben. Mit dieser Organisation sich solidarisch zu erklären, ist ein klarer Fall von Antisemitismus.

Auch jenseits der furchtbaren Attacken vom 7. Oktober kann man die Hamas nicht einfach als Widerstandsbewegung ansehen, wie das von machen Antikolonialisten getan wird. Das Ziel der Hamas und ähnlicher Organisationen ist nicht ein unabhängiges, demokratisches Palästina. Deren extreme Gewaltbereitschaft nach Außen und nach Innen widerspricht allen Grundsätzen einer offenen und zum friedlichen Zusammenleben bereiten Gesellschaft. Dass manches von dieser Haltung auch auf Gewalt von israelischer Seite zurückzuführen ist und dass es auch in der israelischen Politik Kräfte gibt, die auch vor Gewalt gegenüber Palästinenser nicht zurückschrecken, entschuldigt nicht die massiven Gewalttaten der Hamas. Wer sich mit der Geschichte des Kolonialismus und des Antikolonialismus ernsthaft beschäftigt wird klar erkennen, dass die anti-koloniale Gewalt oft auch nach der "Befreiung" weiter ausgeübt wird, nur dann gegen die eigenen Leute. Es ist nicht nachvollziehbar, dass dies so wenige "Expert:innen" des Kolonialismus erkennen. Eine Heroisierung der Hamas zeugt von extremer Unkenntnis und ist eindeutig menschenverachtend. Und im Hinblick auf die Gründungsgeschichte Israels klar antisemitisch.

Es ist wohl aber klar, dass der Antisemitismus nicht mit der Terrorattacke der Hamas und der Bombardierung von Gaza durch die israelische Armee begonnen hat. Der Antisemitismus hat eine lange unrühmliche Tradition besonders auf europäischem Boden. In vielen Ländern waren Diskriminierung, Vertreibung und Pogrome an der Tagesordnung. Der furchtbare Höhepunkt war der durch die Nazis veranlasste und systematisch durchgeführte Holocaust. All diese Phänomene haben die Suche nach einem Ort der Zuflucht und der Sicherheit für Jüd:innen verstärkt. Der Zionismus, der in diesem Sinne eine Befreiungsbewegung ist, führte letztendlich zu einer starken Einwanderung nach Palästina, das durch einen Beschluss der UNO von 1947 in zwei unabhängige Staaten geteilt werden sollte. Israel wurde 1948 Wirklichkeit, der zweite Teil, ein arabischer Staat, Palästina wurde bis heute nicht umgesetzt.

Zwei Narrative mit Konsequenzen

Nach wie vor stehen sich zwei Narrative gegenüber: der Holocaust, der zum Gründungsmythos Israels wurde und die mit der Zuwanderung der Jüd:innen verbundene Vertreibung beziehungsweise Auswanderung der arabischen Bewohner:innen von Palästina, die Nakba. In diesem Zusammenhang meinen Bashir Bashir und Amos Goldberg in ihrem Vorwort zu "The Holocaust and the Nakba: "In historischen Begriffen, sollten beide Ereignisse, so unterschiedlich sie sind – insbesondere (aber nicht nur) im Ausmaß der Ermordungen – mindestens zum Teil innerhalb eines gemeinsamen Rahmens der Gewalt, die durch einen extremen Nationalismus in Kombination mit einer imperialen und kolonialen Ideologie und Politik erzeugt wird, betrachtet werden."

Jedenfalls ist es falsch beziehungsweise greift man zu kurz, betrachtet man Israel als eine Kolonialmacht. Israel wurde auf UN-Beschluss gegründet und Jüdi:nnen besiedelten ein Land, dem sie durch ihre Herkunft und Religion eng verbunden waren und sind. Man kann allerdings vor allem die Vertreibung von Palästinenser:innen nicht zuletzt durch die radikalen Siedler:innen unter den Begriff koloniale Praktiken subsumieren. Mit Recht wird überlegt, solchen Siedler:innen die Einreise nach Europa zu untersagen. Und in diesem Zusammenhang muss immer wieder betont werden, dass europäische Staaten – wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß – mit der "Vertreibung" von Jü:dinnen nach Israel auch Mitschuld an der damit verbundenen Vertreibung der Palästinenser:innen haben. Und daher rührt auch eine Verantwortung Europas sowohl für die Sicherheit Israels als auch für das Wohl und die Lebensbedingungen der Palästinenser:innen.

Im Übrigen hat kürzlich der israelische Historiker Dan Diner klar gestellt, dass sich "im Prozess der Aneignung des Landes durch europäischstämmige Juden koloniale mit nationalen Anteilen" mischen. Und er fügt hinzu: "Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern mochte seiner Genesis nach kolonial gewesen sei, seiner Geltung nach ist er national – wäre da nicht die fortwährende Besiedelung palästinensischer Gebiete als jüdische Landnahme.“

Europa – und ich meine insbesondere die Europäische Union – sollte sich darauf konzentrieren, das gegenseitige Verständnis für das jeweilige Leid beziehungsweise für eine gemeinsame Zukunft zu fördern. Der Palästinenser Sari Nusseibeh, Professor an der Al-Kuds-Universität in Jerusalem, meinte aus Anlass des 300. Geburtstag von Immanuel Kant und seiner Philosophie des Friedens: "In unserer aktuellen Situation fehlt es jedoch an einer wesentlichen Komponente der Friedensstiftung, nämlich an Mitgefühl. Es wäre aber notwendig, dass sich beide Seiten für das Leid und den Schmerz der anderen sensibilisieren. Wir haben es in diesem Konflikt mit zwei zutiefst traumatisierten Völkern zu tun, die beide um ihr Existenzrecht kämpfen. Hier muss jede Seite das Gefühl der Verletzlichkeit der anderen Seite verstehen und nicht nur die eigene."

Antisemitismus und die Kritik an Israel

Der andauernde Konflikt, der durch die Ereignisse des 7. Oktober 2023 und die israelische Reaktion einen neuen Höhepunkt erreichte, hat dem Antisemitismus selbst aber auch der Diskussion darüber, wann es sich um dieses historisch besonders belastete Vorurteil handelt oder um eine zulässige Kritik an Israel beziehungsweise der israelischen Regierung, neue Nahrung gegeben. Schon 2016 hat sich die International Holocaust Remembrance Alliance für eine Definition des Antisemitismus entschieden, die diese Frage klären sollte: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen".

Das war einigen jüdischen Intellektuellen zu allgemein und sie wollten eine klarere Trennung beziehungsweise Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Kritik an Israel herbeiführen. In der "Jerusalem Erklärung zum Antisemitismus" findet sich folgende Definition: "Antisemitismus ist die Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische)." Und dann folgen viele Beispiele was als antisemitisch beziehungsweise nicht als antisemitisch zu verstehen ist. Als antisemitisch gilt insbesondere nicht die "Unterstützung der palästinensischen Forderungen nach Gerechtigkeit und voller Gewährung ihrer politischen, nationalen bürgerlichen und menschlichen Rechte", weiters die "Kritik oder Ablehnung des Zionismus als eine Form von Nationalismus".

Aber auch die Forderung nach "Boykott, Desinvestition und Sanktionen", wie sie die BDS-Bewegungen gegen Israel erhebt, sind laut Jerusalem Erklärung nicht "per se antisemitisch". Dabei wird auch klargestellt, dass Forderungen diesbezüglich durchaus als unangebracht und unvernünftig betrachtet werden können, ohne deswegen schon antisemitisch zu sein. So meinte die schon erwähnte Soziologin Eva Illouz vor einer Beratung im Deutschen Bundestag über eine Verurteilung der BDS: "Ich selbst unterstütze BDS nicht, obwohl ich die Forderung nach einem Ende der Besatzung Palästinas voll und ganz unterstütze (...). Ich habe die Mitglieder des Bundestags aufgefordert, diesen Antrag aus zwei Gründen nicht zu unterschreiben. Erstens: Der Beschluss reduziert den Begriff des Antisemitismus auf politische Zwecke und lenkt von den echten Antisemiten ab (…).Der zweite Grund ist, dass der Beschluss Stimmen unterdrückt die gehört werden müssen, man lässt Israel die Ausrede des Antisemitismus benutzen, um das Problem der Besatzung nicht zu benennen." Der Beschluss wurde dennoch gefasst – ähnlich wie im österreichischen Nationalrat.

Und in vielen Ländern geht die Diskussion über den antisemitischen Charakter der BDS-Bewegung weiter, wobei Vertreter:innen von BDS unterschiedliche, vor allem unterschiedlich radikale Forderungen vertreten. Vor allem muss man die Neben- und Zwischentöne beachten, die bei der Kritik an Israel beziehungsweise an der israelischen Regierung mitschwingen. Einerseits sind konkrete, sich auf einzelne Produkte beziehungsweise die besetzten Gebiete beziehende Boykottforderungen allein noch kein "Code" für eine antisemitische Haltung. Anderseits muss sich jeder der solche Forderungen vertritt im Klaren sein, dass er schnell mit Antisemit:innen in einem Boot zu sitzen kommt.

Man muss allerdings hinzufügen, dass die BDS-Bewegung nur deshalb eine größere Bedeutung bekommen konnte, weil die "westliche" Politik die verschiedenen israelischen Regierungen nicht zu einer Politik der Zweistaaten Lösung bewegen konnte – oder wollte. Sie war und ist jedenfalls halbherzig wenn es um die Verwirklichung der UN Beschlüsse von 1947 ging beziehungsweise geht.

Antisemitismus wurde unbeabsichtigt verstärkt

All diese Fragestellungen bekamen durch die Zuwanderung aus dem arabischen beziehungsweise muslimischen Raum nach Europa und die USA einerseits und durch westliche Interventionen, die als Fortsetzung des Kolonialismus interpretiert werden, anderseits eine neue Aktualität. Jedenfalls erweist sich heute mehr als in den vergangenen Jahren als richtig was Moshe Zimmermann im erwähnten Sammelband festgestellt hat: "Der Zionismus trug unbeabsichtigt dazu bei, den Antisemitismus in Europa zu stärken, anstatt ihn abzubauen. Er half, den Kreis des Antisemitismus zu schließen: von Europa in die arabisch-muslimische Welt und wieder zurück nach Europa, auf dem Weg über die ehemals koloniale, arabisch-muslimische Bevölkerung."

Die russisch-jüdische Intellektuelle Masha Gessen meinte kürzlich in einem Interview mit "Der Zeit" grundsätzlich: "Das Problem liegt darin, dass Kritik an Israel oft als antisemitisch gilt, was ich für den eigentlichen antisemitischen Skandal halte. Dabei übersieht man den tatsächlichen Antisemitismus." Ähnlich äußerte sich die langjährige Leiterin der jüdischen Gemeinde der Harvard University: "Als führendes Mitglied der jüdischen Gemeinde bin ich besonders beunruhigt über die heutige McCarthy-Taktik, eine Angst vor Antisemitismus zu erzeugen, die das sehr reale Problem der jüdischen Sicherheit zu einem Spielball in einem zynischen politischen Spiel macht, um Israels zutiefst unpopuläre Politik in Bezug auf Palästina zu decken (…).Es ist nicht antisemitisch, Gerechtigkeit für alle Palästinenser zu fordern, die in ihrem angestammten Land leben."

Antisemitismus in Kultur und Wissenschaft

In den letzten Wochen wird insbesondere die Kultur- und Wissenschaftsszene auf antisemitische Äußerungen und Aktivitäten untersucht. Dabei erhebt sich nicht nur die Frage was antisemitisch ist, sondern auch die nach dem Recht auf Meinungsfreiheit in der Kunst und auf akademischem Boden. Insbesondere US-amerikanische Universitäten wurden kritisiert, einen Boden für antisemitische Umtriebe abzugeben.

Dazu meinte Ari Joskowicz, Professor für jüdische und europäische Geschichte von der Universität in Nashville in einem Kommentar in der "Frankfurter Allgemeine Zeitung", dass Universitäten in den USA nach wie vor Stätten der "Begegnung und der Debatten" sind. Auch der oftmals sofort als antisemitisch bezeichnete Slogan "from the river to the sea" ist dann nicht antisemitisch, wenn die geforderte Freiheit in diesem Raum alle, also sowohl die jüdische als auch die palästinensische Bevölkerung umfasst. Aber zu behaupten – so Ari Joskowicz – es gebe keinen Antisemitismus auf amerikanischen Universitäten, "wäre genauso vermessen wie zu behaupten, es gäbe keine Islamophobie". Jedenfalls gibt es keine einfachen Antworten "wenn das Prinzip der Lehr-, Forschungs- und Redefreiheit an Universitäten mit der Notwendigkeit kollidiert, Orte des sicheren Lernens und Arbeitens herzustellen." Das gilt übrigens nicht nur für amerikanische Universitäten, sondern auch für europäische und auch analog auch für die globale Kulturszene.

In den USA hat diese Diskussion inzwischen eine neue Schlagseite bekommen. Millionäre wie Bill Ackman und Elon Musk sehen die Wurzel des – ihrer Meinung nach klaren – Antisemitismus im intellektuellen Sektor in den Forderungen nach Diversität, Gleichheit und Einbeziehung (Diversity, Equity and Inclusion – DEI). Für Elon Musk ist "DEI" nur ein anderes Wort für Rassismus“. DEI müsse sterben. Es ist derselbe Elon Musk, der ebenfalls auf X verbreitete, dass jüdische Gemeinden "Hass gegen Weiße" verbreiten. Sein Freund Bill Ackman kam gleich Musk zu Hilfe und meinte, Musk habe das nicht in "antisemitischer Absicht" gesagt. So absurd sind die Äußerungen mancher die aus der Gegnerschaft zum Antisemitismus einen ideologischen Kampf gestalten.

Gesetze und Dialog

Sicher braucht es klare, auch gesetzliche Regeln gegen den Antisemitismus wie auch gegen alle Formen menschenverachtender Diskriminierung. Dies insbesondere in Ländern, wo der Antisemitismus zu schweren lebensbedrohenden und lebensvernichtenden Verbrechen an Jüdi:nnen geführt hat. Aber genauso wichtig ist es, die Debatten darüber, das was antisemitisch ist, nicht vorzeitig durch einseitige Interpretationen und Verurteilungen abzuschneiden. So wie auch die Debatte über die Zukunft Palästinas und das Verhältnis zwischen Israel und einem zukünftigen palästinensischen Staat offen und ehrlich zu führen ist. Trotz des furchtbaren Hamas Terrors vom 7. Oktober oder vielleicht gerade deshalb.

Nichts, was die israelische Regierung oder die radikalen Siedler unternehmen, rechtfertigt oder entschuldigt eine diskriminierende oder abwertende Haltung gegenüber Jüdinnen oder Juden. Keine Verbrechen der Hamas oder ähnlicher Terrororganisationen rechtfertigen und entschuldigen Islamophobie oder abwertende und diskriminierende Haltungen gegen Araber schlechthin. Dennoch, was wir benötigen, ist eine glaubwürdige Strategie gegen alle Formen von Hass, Gewalt und gegen jegliche abwertenden Vorurteile.

Auch wenn der Antisemitismus in Europa besonders tragische Konsequenzen hatte, muss seine Bekämpfung Teil einer umfassenden Strategie gegen Vorurteile und Rassismus sein. Und auch wenn der Holocaust hinsichtlich seiner Dimension nicht mit der Nakba, also der historischen Vertreibung der Palästinenser:innen vergleichbar ist, so sind beide als schmerzhafte Narrative anzuerkennen. So ist auch die Hamas Attacke gegen Israel in Bezug auf ihre unmenschliche Brutalität mit den Attacken der radikalen Siedler nicht vergleichbar, aber beide Arten von unmenschlicher Gewalt sind abzulehnen und zu bekämpfen. Die erfolgreiche Bekämpfung des Antisemitismus setzt also eine kohärente Strategie voraus, nur dann ist sie glaubwürdig.

Es ist nun mal so wie es die mehrfach in Russland unterdrückte Masha Gessen in ihrem Beitrag "Im Schatten des Holocaust" ausdrückte: "Keine Nation ist immer nur Opfer oder immer nur Täter." Thomas Edlinger hat im Zusammenhang mit dem in letzter Zeit verstärkten "Bekenntnisdruck" im STANDARD auf Leonard Cohen verwiesen, der nach seinem Abschlusskonzert seiner letzten Israel Tournee in Israel forderte: "Ein Sieg der Herzen gegen die Neigung zu Rache, Hass und Verzweiflung." Und in seinem Lied "Lover Lover Lover" sang er die Zeilen: "Ich ging hinunter in die Wüste / um meinen Brüdern beim Kampf zu helfen / Ich wusste, dass sie nicht im Unrecht waren / Ich wusste, dass sie nicht im Recht waren".

Anzuerkennen, dass man im Recht und gleichzeitig im Unrecht sein kann, ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, nicht mit Stereotypen und Vorurteilen an historische Ereignisse und an so komplizierte Verhältnisse wie zwischen Israel und Palästina beziehungsweise zwischen Jüd:innen, Muslim:innen und Christ:innen heranzugehen. Das heißt nicht, dass man nicht zwischen Recht und Unrecht unterscheiden kann und muss. Aber der einzelne Mensch, Völker und Staaten sind zu beidem fähig. Und über beides muss man reden können. (Hannes Swoboda, 2.2.2024)