Verbringen ungewollt Weihnachten miteinander: Dominic Sessa, Da’Vine Joy Randolph und Paul Giamatti.
Verbringen ungewollt Weihnachten miteinander: Dominic Sessa, Da’Vine Joy Randolph und Paul Giamatti.
AP/Seacia Pavao

Reich und dumm: Das sei eine Mischung, die sich an der Barton Academy, einer elitären Internatsschule in Neuengland, recht häufig finde. Mit ihrer Einschätzung bestätigt die Kantinenköchin Mary Lamb die Sichtweise des bei Schülern und Kollegium ziemlich unbeliebten Geschichtslehrers Paul Hunham. Beide gehören wie eine Handvoll Schüler zu jenen Unglücklichen, die Ende 1970 die Weihnachtsferien im Internat verbringen müssen. Während Hunham für die ihm anvertrauten Jugendlichen bestenfalls Sarkasmus übrighat, sehen die Schüler in ihm ein übermäßig strenges Relikt vergangener Zeiten.

Es versteht sich, dass es in Alexander Paynes fein kalibrierter Tragikomödie The Holdovers dennoch zu einer Annäherung kommt. Umso mehr, als sich die Konstellation dank einer dramaturgischen Fügung auf ein großartig besetztes Trio zuspitzt. Paul Giamatti, der schon Paynes Roadmovie Sideways als deprimierter Lehrer in einer Lebenskrise bereicherte, versteht es, allein mit Blicken die Bitterkeit wie den Witz seiner Figur zu vermitteln. Da’Vine Joy Randolph, ebenfalls eine Meisterin der kleinen Gesten, lässt als Kantinenchefin hinter der bisweilen ruppigen Fassade viel Wärme durchscheinen. Sowohl Giamatti als auch Randolph befinden sich nach Golden Globes für ihre darstellerischen Leistungen in The Holdovers nun auch auf Oscar-Kurs.

Verlusterfahrungen

Dritter im Bunde ist der Newcomer Dominic Sessa als Angus Tully, der als talentierter, aber mit sich und seiner Umwelt hadernder 17-jähriger Schüler das Nervenkostüm seines Aufpassers und Lehrers verlässlich strapaziert. Da es aus der Kleingruppe kein Entkommen gibt, dauert es nicht lange, bis die Schutzpanzer Kratzer davontragen und tiefer liegende Verwundungen zutage treten.

Offensichtlich ist die Verlusterfahrung der Köchin, die um ihren im Vietnamkrieg gefallenen Sohn trauert. Als hoffnungsvoller Absolvent der Barton Academy verpflichtete sich der junge Afroamerikaner fatalerweise als Soldat, in der Hoffnung, sich damit ein Studium zu finanzieren. Ein Freikaufen vom Kriegseinsatz war für ihn keine Option. Soziale Klassen spielen in The Holdovers vor dem Hintergrund eines Amerika in Katerstimmung die entscheidende Rolle.

Universal Pictures Germany

Lehrer und sein Schüler hüten indessen biografische Geheimnisse, die scheibchenweise mit feinem Humor serviert werden und die Außenseiter einander langsam, aber sicher näher bringen. Ein kleiner Unfall, den es zu vertuschen gilt, tut als Bewährungsprobe sein Übriges. Für das letzte Drittel erweitert Payne das Kammerspiel im eingeschneiten Neuengland zu einem Roadmovie. Die Geister der Vergangenheit lassen sich nicht mehr verdrängen.

Viele erzählerische Muster in The Holdovers sind wohlbekannt. Die Versatzstücke werden aber derart liebevoll variiert, dass der Film seine Mechaniken vergessen lässt. Erinnerungen an den Brat-Pack-Film The Breakfast Club von 1985 mögen sich ebenso einstellen wie solche an die unzähligen Adaptionen von Charles Dickens’ A Christmas Carol. Payne selbst hat Marcel Pagnols Internatsfilm Merlusse aus dem Jahr 1935 als Inspiration genannt.

New-Hollywood-Zitate

Nicht zuletzt ist The Holdovers eine detailreiche Hommage an das New Hollywood der 1970er-Jahre, an Filme von Hal Ashby (Harold und Maude) oder Robert Altman, die bis in die Kamerabewegungen zitiert werden.

Ausgebleichte Logos und knisternder Ton simulieren schon zu Beginn diese vitale Ära des US-Kinos und locken in den Film wie prasselndes Kaminfeuer. Wie Leonard Cohens Musik einst Altmans Schneewestern McCabe & Mrs. Miller atmosphärisch auflud, rieseln die Schneeflocken in The Holdovers zu den passend folkigen Klängen von Damien Jurados Silver Joy. Das alles wärmt The Holdovers zu einem trittsicheren Feel-Good-Movie an, das ob seiner präzise wie empathisch gezeichneten Figuren nie vordergründiger Sentimentalität verfällt.

Die wichtigsten Prüfungen, bei denen es gilt, für andere einzustehen, auch wenn dafür ein hoher Preis zu zahlen ist, werden in Paynes Film nicht nur in der Schule, sondern auch in den Ferien absolviert. Am Ende scheint die Möglichkeit auf, sich einen Weg freizuschaufeln, den man längst aufgegeben hatte. The Holdovers erzählt diese Geschichte derart überzeugend, dass sich auch mehrfaches Anschauen lohnt. Keine schlechte Voraussetzung für einen künftigen Klassiker über die Weihnachtszeit hinaus. (Karl Gedlicka, 27.1.2024)