Die Latte an Vorwürfen, die Strafbehörden Martin Sellner in den vergangenen Jahren gemacht haben, ist lang: Er wurde wegen Körperverletzung, Verhetzung und der Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt und war Beschuldigter in Verfahren rund um Terrorunterstützung, Betrug und Untreue. Doch bislang haben sich die Staatsanwälte an Sellner die Zähne ausgebissen. Strafbares Verhalten konnte ihm, zumindest in seiner Erwachsenenzeit, nicht nachgewiesen werden.

Sellner
Vor Gericht ging es für Identitären-Vordenker Martin Sellner bislang immer gut aus.
APA/GEORG HOCHMUTH

Das schränkt die Möglichkeiten der österreichischen Sicherheitsbehörden stark ein. So ist etwa ein Entzug des Reisepasses wie bei verurteilten Jihadisten oder Neonazis nicht möglich. Behörden im Ausland haben es da leichter, wie die deutschen Überlegungen zu einer Einreisesperre und die verdeckte Fahndung gegen Sellner zeigen. Gegen fremde Staatsbürger ist rechtlich mehr möglich.

Sellners "Jugendsünde"

Sein erstes Zusammentreffen mit Strafbehörden hatte Sellner bereits in seiner Jugend: Im Jahr 2006 wurde der damals 17-Jährige überführt, Plakate mit Hakenkreuzen und der Aufschrift "Legalisiert es" an der Außenmauer der Synagoge in seinem Heimatort Baden angebracht zu haben. Sellner zeigte sich reuig, das Verfahren endete mit einer Diversion – also ohne Verurteilung. Er verpflichtete sich, rund hundert Stunden gemeinnützige Arbeit am jüdischen Friedhof zu leisten.

Später, als Identitären-Chef, distanzierte sich Sellner von dieser Aktion. Er habe damals ein "simples Weltbild" gehabt und "provozieren" wollen. Seine damalige Kameradschaft mit dem mehrfach verurteilten Neonazi Gottfried Küssel bezeichnete er als "Jugendsünde", es habe schlicht keine Alternative wie die "Identitäre Bewegung" gegeben, die Sellner mit anderen ab den frühen 2010er-Jahren aufgebaut hat.

Großverfahren in Graz

An Zulauf gewann die rechtsextreme Gruppierung vor allem im Zuge der großen Fluchtbewegungen, die ihren Höhepunkt im Jahr 2015 erreichten. Im April 2016 stürmten die Identitären die Aufführung eines Theaterstücks, dessen Darsteller vor allem Geflüchtete waren, im Audimax der Uni Wien. Sellner wurde daraufhin vorgeworfen, eine Studentin verletzt zu haben, das Verfahren endete mit einem Freispruch.

Ab April 2018 kam es dann zu weitreichenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft (StA) Graz, die führenden Identitären die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorwarf. Auch hier wurde Sellner freigesprochen.

Unter Terrorverdacht

Besonders heikel wurde es für Sellner dann ein Jahr später: Am 15. März 2019 tötete ein rechtsextremer Australier in zwei Moscheen in Neuseeland mehr als fünfzig Personen. Rasch wurde enthüllt, dass der Terrorist im Jänner 2018 Geld an Sellner gespendet hatte. Daraufhin hatten beiden auch schriftlichen Kontakt zueinander, luden sich etwa gegenseitig zu Treffen ein.

Jacida Ardern
Die damalige Premierministerin Jacinda Ardern besuchte Opfer des schlimmsten Terroranschlags in der Geschichte Neuseelands. Sellner hatte Kontakt zu jenem Mann, der dabei über 50 Menschen ermordete.
APA/AFP/MARTY MELVILLE

"Es ist noch ein langer Weg bis zum Sieg, aber jeden Tag werden unsere Leute stärker", schrieb der spätere Terrorist an Sellner. "Wenn du je nach Wien kommst, müssen wir auf einen Kaffee oder ein Bier gehen", antwortete der. Ermittlungen nach dem Terroranschlag zeigten, dass der Terrorist nur einen Tag nach dieser E-Mail online ein Mietauto in Österreich reservierte.

Der Australier reiste später tatsächlich nach Wien, wo er etwa das Heeresgeschichtliche Museum besuchte. Sellner bestritt vehement, sich mit dem Rechtsterroristen getroffen zu haben; das Verfahren wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung wurde im Jänner 2021 eingestellt. Wenig später wurden auch die Ermittlungen wegen des Verdachts auf Untreue und Betrug im Zusammenhang mit eingenommenen Spenden an die Identitäre Bewegung und Sellner beendet.

Der unbescholtene Rechtsextreme

Zuletzt musste Sellner, der sich im Frühjahr 2023 zumindest formal von der Spitze der Identitären Bewegung zurückgezogen hat, im Mai 2023 vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft Wien hatte ihn rund um ein Posting auf Telegram der Verhetzung angeklagt. Sellner hatte dort unter anderem davon geschrieben, dass "von jedem Asylheim derzeit mehr Gefahr für unsere Kinder als von den Reichsbürgern" ausehe. Der Richter sah kein Aufstacheln zu Hass und keine konkrete Gruppe, gegen die Sellner gehetzt habe – daher: Freispruch. Der Identitären-Vordenker ist somit unbescholten.

Im Visier von Verfassungsschutzbehörden in Österreich und Deutschland steht der heute 35-Jährige dennoch. Die Identitären werden als rechtsextreme Gruppierung eingestuft und etwa im Rahmen der sogenannten erweiterten Gefahrenerforschung beobachtet.

Konsequenzen abseits des Strafrechts hatten die vielen Skandale rund um Sellner jedenfalls: Die Symbole der Identitären Bewegung sind seit Juli 2021 verboten; zudem haben reihenweise Bankinstitute die Konten der Identitären Bewegung und ihrer vielen Vereine gekündigt. Und, für einen Influencer besonders schmerzhaft: Auf Youtube, Instagram, Facebook und X (Twitter) ist Sellner gesperrt. (fsc, 29.1.2024)