Long Covid, ME/CFS, chronisches Fatigue-Syndrom
Betroffene sind oftmals nicht mehr fähig, ein normales Leben zu führen.
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"In der Vergangenheit ist nichts unwiederbringlich verloren, im Gegenteil, in ihr ist alles unverlierbar geborgen." So tröstlich diese Worte von Viktor Frankl klingen mögen, im Fall schwerer chronischer Erkrankungen aber wirken sie nur bedingt. "Normalerweise schätzt man es im Alltag leider allzu oft doch eher wenig, betrachtet es als selbstverständlich, wenn man gesund und munter jeden Morgen aufs Neue erwacht", erzählt Gerhard Ströck, Doyen der bekannten Bäckerdynastie.

Video: Simone und Sarah leiden am Chronischen Fatigue-Syndrom – eine mögliche Folge einer Coronavirus-Infektion.
DER STANDARD

Zwei seiner drei Söhne erkrankten – von heute auf morgen – an ME/CFS. Sohn Christoph erkrankte 2014 – lange vor der Corona-Pandemie –, erhielt aber erst nach einer langen Odyssee anno 2016 von Spezialisten in den USA die Diagnose ME/CFS. Bei Bruder Philipp traten 2018 erste Symptome auf.

Wie bei den meisten Patienten wurden zunächst falsche Diagnosen gestellt, psychische Erkrankungen vermutet, falsche, oft kontraproduktive Therapiemethoden und Medikationen verschrieben. Nach Jahren der glücklosen Suche nach Heilungsmöglichkeiten gründeten Gabriele und Gerhard Ströck im Jahr 2019 die WE&ME-Stiftung. Ziel dieser Privatinitiative ist es, notwendige Forschungsarbeiten einerseits mit Millionenbeträgen finanziell und andererseits durch Bewusstseinsförderung und Aktivitäten tatkräftig zu unterstützen.

Altbekannt, aber kaum erforscht

Die Medizinische Universität Wien definiert Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) als eine neuroimmunologische Multisystemerkrankung. Typischerweise leiden ME/CFS-Betroffene unter einer extrem beeinträchtigten Leistungsfähigkeit, die von schwerer körperlicher wie geistiger Fatigue begleitet wird und mindestens sechs Monate andauert. Die Krankheit führt je nach Schweregrad zu einer weitreichenden Behinderung, zunehmend zu Bettlägerigkeit bis hin zur Pflegebedürftigkeit rund um die Uhr.

Fenster mit Vorhängen
Wer von ME/CFS betroffen ist, kann oft nicht mehr machen, als die Welt vom Bett aus zu betrachten.
imago/Winfried Rothermel

Obwohl die Ursachen von ME/CFS immer noch nicht erforscht sind, ist die Krankheit nicht unbekannt. Anerkannt wurde ME/CFS von der WHO bereits 1969. Mittlerweile wird ME/CFS als neurologische Erkrankung klassifiziert. Die Erkrankung ICD-10. G93.3 wird untergliedert in Myalgische Enzephalomyelitis und Postvirales Fatigue-Syndrom.

Aktuellen Schätzungen folgend leiden derzeit allein in Österreich zwischen 25.000 und 80.000 Menschen an ME/CFS. Trotz Erhöhung des Bekanntheitsgrades durch die Corona-Pandemie (unter dem Signet Post-Covid oder Long Covid) dürfte die Dunkelziffer aber weit höher liegen, weshalb die Stiftung derzeit die professionelle Erfassung der Betroffenen durch ein bekanntes Meinungsforschungsinstitut plant.

Sensibilisierung und Spenden

Es geht aber um weit mehr als nur Bewusstseinsbildung. Es gilt, die Kommunikation und Koordination der involvierten Stakeholder sowie der bislang im Föderalismus verankerten Referenz- und Kompetenzzentren zu verbessern, die Diskussion über Schnittstellen anzufachen und ein klares Anforderungsprofil für die dringend notwendige Primärversorgung zu erstellen. Sensibilisierung befindet sich im Fokus, aber auch soziale und rechtliche Fragen wie die Anerkennung des Krankheitsstatus per se, die Einrichtung einer Clearingstelle, die Zusammenarbeit mit dem AMS, der WKO, dem IHS, mit Ländern und Ministerien.

Durch die Initiative ihrer Stiftung erfuhr Familie Ströck von einer Vielzahl an ähnlichen Schicksalen, von Frustration, sozialer Ächtung, falscher Diagnostik, Abqualifikation in Richtung Psychosomatik, gesellschaftlicher Missachtung, Unverständnis.

Für Gerhard Ströck, geprägt von Demut und Bescheidenheit trotz des Aufstiegs von der kleinen Backstube in Kittsee zur industriellen Großbäckerei, war es selbstverständlich, fortan mit Millionenbeträgen auch die wissenschaftlich-medizinische Forschung zu unterstützen. Dessen aber nicht genug, will Ströck auch "aktiv Menschen zusammenbringen, etwas für die vielen Patienten erreichen".

Neues Zentrum für ME/CFS

Mitte Jänner erklärte Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne), dass es im Februar 2024 eine Ausschreibung für ein geplantes Zentrum für postvirale Erkrankungen geben solle. Dieses solle die Behandlung von an Post-Covid und ME/CFS erkrankten Patienten verbessern. Bis zum Sommer soll ein Aktionsplan erarbeitet werden, soll entschieden werden, wer das Zentrum betreiben und was von wem konkret erforscht werden soll. "Für die Betroffenen geht alles zu langsam", moniert Ströck.

Corona-Test
Die Corona-Pandemie hat auch die Krankheit ME/CFS stärker in den Fokus gerückt.
IMAGO/Felix Schlikis

Ende Jänner brachte er namhafte Stakeholder der medizinischen Forschung von der Med-Uni Wien, der ÖGK, der Stadt Wien, der Volksanwaltschaft an einen Tisch, mit dem Ziel, die Forschung nicht nur monetär tatkräftig zu unterstützen, sondern auch im Prozess voranzutreiben. Bisher hat Familie Ströck über eine Million Euro in diverse Projekte investiert, zudem finanziert sie den mit 100.000 Euro dotierten, für Forschungsprojekte jährlich vergebenen Johadamis-Award. Im Juni 2024 wird das Symposium FENS (Federation of European Neuroscience Societies) stattfinden, bei dem die WE&ME-Stiftung gemeinsam mit österreichischen Selbsthilfegruppen eingeladen ist, ME/CFS zu repräsentieren.

Diagnose ohne Therapie

Ursachen und Entstehungsmechanismen von ME/CFS sind weiterhin nicht ausreichend geklärt. Jedoch gibt es vermehrt Hinweise darauf, dass der Krankheit eine Fehlregulation des Immunsystems und des autonomen Nervensystems zugrunde liegen könnte. Erschwerend kommt hinzu, dass ME/CFS oftmals mit einer Reihe weiterer unspezifischer Multisystemerkrankungen, wie dem Mastzellaktivierungssyndrom oder der Small-Fiber-Neuropathie, einhergeht, die ebenfalls nur schwer zu diagnostizieren sind. Daher ist auch noch unklar, inwieweit es abgrenzbare Untergruppen im Krankheitsbild ME/CFS gibt.

Der Leidensweg für sämtliche Angehörigen der Bäckerdynastie ist extrem belastend. Der heute 37-jährige Christoph ist ein kompletter Pflegefall, kann weder das verdunkelte Zimmer noch sein Bett verlassen, absolut nichts unternehmen. Auch Bruder Philipp (39) ist mittlerweile, nach einer kurzen Phase der Besserung, nicht mehr fähig zu arbeiten, ermüdet rasch geistig wie körperlich. Ein Schicksal, das dem vieler anderer Betroffener gleicht, wie WE&ME zutage förderte.

Weiterhin viele Fragezeichen

Was die Erkrankung letztendlich auslöst, lässt sich auch aus den Berichten der Erkrankten nicht eindeutig herauslesen. Ein Teil der Patienten berichtet von einem eindeutigen und akuten Krankheitsbeginn nach einer viralen oder bakteriellen Infektion. Aber auch Operationen, Traumata oder hormonelle Veränderungen werden als Auslöser genannt.

Einem anderen Teil der Erkrankten ist es jedoch nicht möglich, den Beginn des Leidens eindeutig zu identifizieren. Vermutet wird ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren, die teilweise umweltbedingt, teilweise auch genetisch sein können. Betroffen sind tragischerweise vornehmlich junge Menschen, 70 Prozent davon sind Frauen. Bislang existiert keinerlei Therapiemöglichkeit. Die Hoffnung liegt nur im Selbstheilungsprozess.

Seit Herbst 2023 besteht an der Med-Uni Wien eine ME/CFS-Biobank mit Proben und Patientendaten, die Vergleiche, Studien und Kooperation mit internationalen Partnerinstitutionen zulässt. Allein in Deutschland spricht man von einer Dunkelziffer von weit über 250.000, weltweit von 17 Millionen Menschen, die ME/CFS-Patienten sind. "Die Betroffenen können nicht warten, es muss etwas geschehen", so der Tenor. Es gilt, rasch Diagnose, Mechanismen der Krankheit zu erforschen und Therapien zu entwickeln.

"Nach einer Phase aus Trauer, Verzweiflung und Hoffnung" hofft die Familie Ströck, mit ihrer Initiative zu sensibilisieren, zu unterstützen, als Katalysator zu agieren – und jenen eine Stimme zu geben, die keine Kraft mehr haben. (Gregor Auenhammer, 8.2.2024)