Cucina Alchimia Kritik Restaurantkritik Corti Standard
Im Keller reift und blubbert kunstvoll Fermentiertes vor sich hin, oben im Restaurant wird damit ebenso verspielt wie köstlich gekocht.
Gerhard Wasserbauer

Okay, die Website ist ein bisserl zum Angstkriegen. "We develop interconnected rituals, objects, experiences and installations between art, taste and function", steht da auf der Landing­page. Das Restaurant selbst wird als Institut für experimentelle Kulinarik bezeichnet, unter "Projects" ist von einem Gericht namens "Reactor Bowl" die Rede, für das Garnelen-Paprika-Ceviche in einer glosenden Kuhle serviert wird, die mittels glühender Kohlen in eine Holzplanke gebrannt wurde. Dass man auf der Planke (als Relikt der Aktion konserviert und zu einem Schemel umgestaltet) zu sitzen kommt, wenn man sich an der Küchen­theke des Restaurants niederlässt, merkt man erst im Nachhinein. Es ist ein bisserl schummrig hier, sehr voll und eher eng. Außerdem gibt es so viel anderes zu sehen.

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Knusprige Blunze mit Apfelkren und Erdäpfelstroh
Gerhard Wasserbauer

Die freigelegten alten Balken der Dachkonstruktion zum Beispiel – oder das aus Euroboxen filigran zusammengebaute Regal, in dem Artefakte, Objekte und wohlgefüllte Rexgläser vergangener Aktionen präsentiert werden sollen, oder die großflächigen Tattoos der Mannschaft. Schaut alles irrsinnig hip aus, dabei ist das hier doch Ober St. Veit, mitten im nach Geld duftenden, konservativen Epizen­trum von Wien?

Auch das Essen ist keineswegs so ­experimentell und zwischen "Kunst, Geschmack und Funktion entwickelt", wie einem das online angedroht wurde. Die Betreiber Jakob Bretterbauer, Sendi Gbinia und Michael Moser sind zwar eindeutig im Spannungsfeld von Design und Kochkunst zu Haus, aber sie sind ganz offenbar auch sehr gute Gastgeber. So fühlt man sich in keinem Moment wie der Leidtragende eines Experiments fragwürdiger kulinarischer oder künstlerischer Natur, sondern ganz im Gegenteil.

Dass im Keller verschiedene Garums und Kimchis blubbern, mit Koji behandelte Rohschinken und Würste reifen, dass die Energie dafür schon bald über einen Biomeiler aus dem prächtigen Gastgarten kommen soll? Das erfährt man nur auf der Website, oder wenn man nachfragt, was dem Essen so berückend vollen Geschmack verleiht.

Topinambur zum Beispiel, im Ganzen geschmort und mit einer Salsa aus Reiskleie-Garum, Haselnussöl und Lacto­wasser (im Wesentlichen der Fermentierflüssigkeit, die auch bei Sauerkraut anfällt) serviert, packt eindrucksvollen, puren Wohlgeschmack auf den Teller. Obendrauf ein Haufen Topinamburchips für den Crunch, und fertig ist ein Gericht, das man demnächst wieder haben will. Knusprig gebratene Blunze, außerordentlich dicht, fast wie Morcilla gewürzt, wird mit besonders fruchtigem Apfelkren und zu Stroh frittierten Erdäpfeln (siehe Bild) kombiniert, federnd leichte Interpretation eines Klassikers. Die Blunze kommt, wie das außerordentlich gute Weizen­sauerteigbrot, vom Weingut Liszt in Leitha­prodersdorf, in dessen bemerkenswertem Heurigen Gbinia auch mit Fermentieren begonnen hat.

Wein können sie auch

In Buttermilch und Shoyu marinierter und knusprig frittierter Wels gerät nicht ganz so – als ob die Marinade dem Fisch ein bisserl zu sehr zugesetzt hätte. Die mit den Bohnen aus dem Shoyu-Ansatz aromatisierte Mayo dazu ist aber wunderbar, auch der Rettich-Nori-Salat macht sich gut. Bauchfleisch mit knackigem Shio-Koji-Kraut und einem (nicht ganz schlüssigen) Schnittlauchbrot an der Seite macht auch Freude – vor allem, wenn der optisch gar laichige Kümmelschaum erst einmal zusammengefallen ist. Zu all dem schenkt Jakob Bretterbauer, der außer Koch auch Diplom-Sommelier ist, aus der feinen, mit Blick über den Tellerrand zusammengestellten Weinkarte ein. Und zum Trifle aus Haselnusscookies mit Mohn-Topfen-Creme, eingelegten Zwetschken und, Achtung Experiment, Stangenzeller gibt’s tadellosen Espresso. Es ist ein Wagnis, sich hinaus nach Ober St. Veit zum Essen zu trauen – aber es wird belohnt. (Severin Corti, 9.2.2024)

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Schweinebauch mit Kojikraut und Kümmelschaum samt Schnittlauchbrot
privat
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Trifle mit Haselnusscookies, Mohn-Topfen-Creme, eingelegten Zwetschken und, Achtung Experiment, Stangenzeller.
privat
Cucina Alchimia Kritik Restaurantkritik Corti Standard
Gebackener Wels mit Bohnen-Mayo und Rettich.
privat