Der Verleger und Dichter Michael Krüger.
Der langjährige Verleger und Dichter Michael Krüger.
LZT/D. Hurnaus

Das siebte Gedicht

1
Es brennt. Alles ringsum brennt. Das Haus, die Treppe,
Dach und Böden, alles steht in Flammen. Die Lügen
brennen lichterloh. Das Wasser brennt, das Meer,
selbst die große Stille wird ein Raub des Feuers.
Das Feuer steigt den Berg herab und lässt die Büsche
lodern, sogar die Steine in der Mauer brennen.
Aus der Verklärungskathedrale schlägt ein Feuer.
Das letzte Jahr des Buches ist schon Asche,
ein dünner Rauch zeigt an, wo sie einst standen
und gelesen wurden. Es glimmt und glüht die Lohe
über Parlamenten, das Erbarmen ist schon lang verbrannt,
der Weizen und die Erbsen, alles hin und weg.
Und wenn nicht alles täuscht, dann wüten Feuer
auf der Zunge und verbrennen Wort für Wort die Rede.
Wir, des Weltalls Inbegriff, gehen auf in Flammen.

2
Im Juli waren wir oft unten am See, meistens am Abend,
weil ich sehen wollte, wie die Sonne am anderen Ufer
untergeht. Bevor sie hinter Tutzing verschwindet, zögert sie
einen halben Atemzug lang, als wolle sie es sich noch einmal
überlegen. Sie zögert jeden Tag, dann geht sie unter.
Die Linden sind angefressen, aber halten sich tapfer, den Efeu,
der sie heftig umarmt, ertragen sie wie eine lästige Pflicht.
In der Dämmerung durchbrechen winzige Fische
die Oberfläche des Wassers, ihre Botschaften erreichen uns
in kleinen Wellen: Aber der Herr verschaffte einen großen Fisch,
Jonas zu verschlingen. So hat auch das Unwirkliche freien Zugang
zum See. Man wird einerseits durchsichtig wie Wasser,
selbstlos und leicht, andererseits kann man sich schwer erheben,
weil man schon Wurzeln geschlagen hat, die einen binden.

3
Lieber Gott, ich will dich nicht stören, du hast genug um die Ohren.
Aber lass es einmal regnen, damit das Feuer erlischt. Amen.

Das achte Gedicht

Kaum Pilze im zweiten Jahr des Krieges,
der Boden zu trocken oder, nach dem großen Gewitter,
zu nass für das Judasohr und den Steinpilz,
der nicht flüchten kann über den immer durstigen Sand.
Manchmal sieht man eine verlorene Gruppe
Faltentintlinge mit ihren grauen, durchlöcherten Helmen,
oder eine Ziegenlippe, die sich trotz ihrer faltigen Huthaut
den Schnecken anbietet. In den sauren Laubwäldern
jenseits der Autobahn stehen der gut gekleidete Raukopf
und der violette Schleierling auf seinem schleimigen Fuß.
Ihr Gift wirkt oft erst nach Wochen, wenn wir schon nicht mehr
an eine Epochenwende geglaubt haben.
Aber auch ohne essbare Pilze ist es immer noch befreiend,
im Sommer durch den Wald zu laufen, ohne Gedächtnis,
ohne Zeit und ohne die Ahnung, dass in diesem Moment
die Geschichte der Vergangenheit umgeschrieben wird,
um sie der Zukunft anzupassen. Die alten Bäume
bereiten sich auf das Sterben vor und ziehen die Hornissen an,
die lange auf der roten Liste standen. In ihrer Monarchie,
mit einer stolzen Königin an der Spitze, überwintern nur
die Arbeiterinnen, die Drohnen erleiden einen frühen Tod.
Als ich jung war, hatten wir Angst vor den Drohnen,
vor ihrem tödlichen Fleiß. Damals hätte nicht viel gefehlt
und wir wären vernünftige Menschen geworden,
weil alles vernünftig klang, besonders der kühne Entwurf
unserer Zukunft. Wir mussten viele Sprachen lernen,
um uns halbwegs zu verstehen. Wir glaubten, wenn wir glaubten,
nicht Gott, sondern der Teufel sei tot. Im Hinterzimmer
durften wir, auf eigene Faust, Pascal lesen, bis wir selbst
nicht mehr wussten, wer wir waren. Es gab viel Hilfe,
aber keinen Trost. Jetzt also beginnt die Epochenwende,
die Gebrauchsanweisung steht als Fortsetzungsroman
in allen Zeitungen. Am Ende meines Weges durch den Wald
fand ich dann doch noch ein paar Maronen, die Hochstapler
unter den Schwammerln, die wie Steinpilze aussehen wollen.

Das neunte Gedicht

Der Tag war noch nicht angebrochen, da hatte Atlas seine Last schon
abgeworfen, dass die Welt zersprang und die Menschen, eingehüllt
in Umhänge aus Staub, unter den Trümmern ihrer Häuser erstickten.
Es war das letzte Kapitel einer Mythologie vom aufrechten Menschen,
die bis heute in dieser Gegend erzählt wird, Leben erzeugt Tod.
Danach eine verheerende Sintflut in Darna, und kein Gott, der Noah
einen Hinweis gab, die rettende Arche zu bauen aus gutem Holz.
Die Dämme brachen und ließen dem gestauten Wasser
freien Lauf, sich mit dem salzigen Wasser der Großen Syrte
zu paaren. Eine vieltausend Jahre alte Erzählung, von Herodot
und Flavius Josephus begründet, zuerst mit Blut und dann mit Tinte
geschrieben, gefärbtem Wasser, schwamm den zwei Regierungen
des gebeutelten Landes davon, und mit ihnen die Datteln, das Öl
und der Safran und die Erinnerung an Alexander den Großen.
Weiter südlich stehen Soldaten in frisch gebügelten Uniformen
vor einem Mikrofon und verkünden, die seltenen Erden in Zukunft
ohne fremde Hilfe zu schürfen. Wer es nicht glaubt,
muss lebenslänglich Sand zählen oder wird nebenbei erschossen.
Erschossen wird auch, weiter östlich auf der immer noch runden Erde,
wer den Schleier wegziehen will vor dem Jammer der Welt.
Vom Mond aus ist Darna nicht mehr zu erkennen, doch die wabernde Brühe
vor der Küste bildet mit seinen verlaufenden Farben ein Aquarell,
das sich gut sehen lassen kann: die Grenze zwischen den göttlichen
und den menschlichen Plagen verschwimmt zu einer schönen Einheit.
Nichts bleibt den großen Augen verborgen, welche die Erde umkreisen,
auch Europa nicht, wo die Räume schrumpfen und winzige Mauern
gebaut werden am Morgen, die am Abend schon geschleift sind.
Leviathan läuft lachend über die rauchenden Trümmer hinweg.
Doch die Himbeeren waren so herrlich süß wie im vergangenen Jahr,
nur die Brombeeren ließen zu wünschen übrig, gar nicht zu reden
von den Pilzen, die ohne jede Abstandswahrung ihr Gift versprühten.
"Ihr müsst verstehen, dass wir euch lieben", hatte ein russischer Soldat
zu Milan Kundera gesagt, damals, als die Welt schon einmal geteilt war,
„wie schade, dass wir gezwungen sind, euch mit Panzern beizubringen,
was es heißt: zu lieben.“ Noch halten die Blätter am Ahorn,
und ein paar Bienen tun so, als hätte Gott den Leviathan schon erwürgt.
Über dem See sammeln sich in schwarzen Schleiern die Vögel,
bald werden sie das Land verlassen und uns.

Das zehnte Gedicht

Es ist sicher zwanzig Jahre her, denn der kleine Herr Birger
aus Kaunas war noch am Leben, der Gründer der Sons of Zion,
und in Jerusalem musste man nicht für die Demokratie
auf die Straße gehen, weil es sie gab, als ich eines Nachmittags
mit Nan Graham, Don DeLillo und dem Krimiautor Walter Mosley
im armenischen Viertel der Altstadt von Jerusalem war,
als plötzlich eine Gruppe von singenden Mönchen, gekleidet
in wehende Tücher, uns sanft einkreiste und mitnahm zur Messe.
Ich werde nie vergessen, wie meine Angst von mir abfiel
wie eine lästige Haut, und ich verstand jedes Wort des Gesangs.
Große dunkle Vögel kreisten über der St. Jakobus-Kathedrale,
Schwarzstörche oder übergroße Stare, die mit klaren Schwüngen
und verkrakelten Kapriolen die armenische Schrift in den Himmel
schrieben.“ Der Mensch ist noch lange nicht das, was er kann,
und schon gar nicht das, was er über sich zu wissen glaubt.“
Später stand ich im Hof der armenischen Druckerei,
wo ein uralter Katholikos mit Hilfe winziger Eidechsen
aus rissigen Holzlettern Kommentare zu den Kommentaren
zur Lebensgeschichte des Mesrop Maschtotz formte,
die auch in den anderen Vierteln Jerusalems beachtet wurden.
Als ich jetzt die Traurigkeit sah in den Augen der Armenier,
die mit ihren Eseln aus den schwarzen Gärten von Bergkarabach
in das Elend von Jerewan ziehen mussten, weil die Geschichte
unbedingt zeigen will, zu welcher Verderbtheit sie fähig ist,
fragte ich mich, was noch alles passieren kann, wenn wir demnächst
den Beginn des dritten Jahres des Krieges erleben müssen,
und mir fiel der armenische Künstler Arshile Gorky ein, dessen Familie
dem Genozid zum Opfer gefallen war und dessen Heimatstadt
im 1.Weltkrieg ausradiert wurde. Weil er begriffen hatte,
dass der Mensch das einzige Wesen ist, dass Angst hat vor sich selber,
wollte er seine Biographie umschreiben, um als ein anderer
ein bedeutender Maler des 20. Jahrhunderts zu werden.
Aber das Jahrhundert saß in ihm drin und fras ihn innerlich auf,
da nahm er sich - der Krieg war erst drei Jahre vorbei - einen Strick
und erhängte sich zwischen seinen Bildern im Atelier in Sherman,
USA. Übrigens habe ich den letzten der Äpfel in meinem Garten
Ende November gepflückt. Er war so versteckt unter den Blättern,
dass ich ihn erst gesehen habe, als die nunmehr kahlen Äste
ihr trostloses armenisches Gebet in den Nebel schrieben:
„Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann soll, sagt der Prophet,
meine Rechte verdorren.“

(Michael Krüger, 8.2.2024)