Wenn ein Wahljahr und ein Kantjahr zusammenfallen, wären die besten astronomischen Voraussetzungen dafür gegeben, die nächsten Monate bis zum Wahltag als einen Triumph der Aufklärung in Österreich zu gestalten.

Möge sich niemand an der zweihundertjährigen Verspätung stoßen, spät, aber doch hat der ÖVP-Obmann in seiner Rolle als Bundeskanzler immerhin einen Notausgang aufgestoßen, der es seinen Landsleuten ermöglichen soll, aus selbstverschuldeter Unmündigkeit auszubrechen und den wahren Wert seines politischen Schaffens zu erkennen.

Offiziell gilt sein Bohren harter Bretter (Obacht: Weber, nicht Kant!) vor den Köpfen jenen Landsleuten, die es erst werden wollen oder es erst kürzlich geworden sind. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der leitkulturelle Zurichtungsversuch, den er sich vom Führer der Freiheitlichen abgeschaut hat, in verdünnter Dosis zunächst einer autochthonen, aber möglicherweise selbstvergessenen Bevölkerung gelten muss. Wie sollen Migranten zu einer österreichischen Seele kommen, wenn sie ihnen nicht von Eingeborenen eingehaucht wird!

Bundeskanzler Karl Nehammer
Bundeskanzler Karl Nehammer hat eine sich als "nationales Kulturgut gesetzlich widerspiegelnde" Leitkultur bis 2030 in seinem "Österreich-Plan" verankert.
IMAGO/Harald Dostal

Seine diesbezüglichen Bemühungen verliefen anfangs insofern etwas holprig, als er den hungrigen Massen schnitzelverachtend den Big Mac von McDonald’s empfahl. Von dem zum Döner ist es nur eine kleine Verirrung, und der Untergang der patriotischen Wirtshausleitkultur ist nicht mehr aufzuhalten. Diesen Fehler versuchte er auszumerzen, indem er Frau Susanne Raab mit der Ausarbeitung eines Konzepts zur "österreichischen Leitkultur" betraute, die im Banne seiner innerparteilichen Richtlinienkompetenz schon nicht darauf bestehen wird, sich dabei ihres Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Wäre auch nicht das erste Mal.

Treueschwur

Bisher zeichnet sich ab, dass dieses Konzept über nötige Sprachkenntnisse und die selbstverständliche Einhaltung österreichischer Gesetze hinaus vor allem darin bestehen soll, von Menschen, die aus anderen Kulturkreisen kommen, nur nichts zu lernen, sondern ihnen, ohne dass es dafür eine in der Menschenrechtskonvention aufgeführte Notwendigkeit gäbe, österreichisches Brauchtum aufzunötigen und dessen Pflege womöglich zu erzwingen. Menschen, die aus anderen Kulturkreisen kommen, sollen gefälligst kapieren, was WIR von ihnen erwarten, und sich nicht einbilden, sie könnten hier ihrer Kultur frönen.

Das ist ein wenig ungerecht, hat doch kein à priori Hiesiger eine Reduzierung seiner Sozialleistungen zu befürchten, wenn ihm österreichische Bräuche Blunzen sind und österreichische Traditionen, wie etwa der Antisemitismus, peinlich. Solche Sonderlinge müssen nicht einmal ein Gelöbnis ablegen, wie es das Staatsbürgerschaftsgesetz für Verdächtige aus anderen Kulturkreisen vorsieht. Und schon gar keinen neoliberalen Treueschwur.

Auch der wird als Antwort auf Kickls Leitkulturvorstellungen – den freiheitlichen Meineid auf das österreichische "System" – nicht ausreichen. Dessen kategorischer Imperativ fordert, dass Remigration allgemeines Gesetz werde, und am Aschermittwoch wird er wieder dafür werben, wenn sich in der Jahnhalle zu Ried unter seiner Leitung herangekarrte Österreicher/innen fähnchenschwenkend jeglichen Verstandes entledigen sollen. Keine Chance für Kant. (Günter Traxler, 9.2.2024)