Kurz nach Kriegsbeginn kamen täglich tausende Geflüchtete in Przemyśl an.
Kurz nach Kriegsbeginn kamen täglich tausende Geflüchtete in Przemyśl an.
REUTERS

Wenn es etwas gibt, das die polnische Stadt Przemyśl auszeichnet, dann sei das die lange und komplexe Beziehung zwischen der polnischen und der ukrainischen Bevölkerung, erzählt Tatiana Nakonieczna, während sie einem Sicherheitsbeamten freundlich zunickt und einen Gang entlangläuft, der in den hinteren Bereich des Bahnhofs führt. Einige Feldbetten stehen bereit, Decken, Wasserflaschen. Auch an diesem Sonntagnachmittag im Februar sitzen wieder einige Dutzend Menschen hier und warten auf die Weiterreise in andere polnische Städte oder zurück in die Ukraine. Nach bald zwei Jahren Krieg stellen die Direktzüge zwischen der 60.000-Einwohner-Stadt Przemyśl und Kiew noch immer eine der wichtigsten Verkehrsverbindungen für Millionen Menschen dar. Der Flugverkehr wurde in der Ukraine mit dem Beginn der Invasion eingestellt.

"Die Solidarität mit den Geflüchteten hier in Przemyśl ist noch immer bemerkenswert", sagt Nakonieczna, die sich seit Jahren im ukrainischen Kulturbereich engagiert. Sie ist eine von mehreren Tausend, die zur in dieser Gegend lebenden ukrainischen Minderheit zählen. Gerade hier nahe der Grenze schien die historische Feindseligkeit zwischen Polen und Ukrainern tief verwurzelt, sagt sie. Seit dem Krieg habe sich das Verhältnis und das Verständnis nicht nur zwischen den beiden Ländern verbessert, sondern auch zwischen den Bevölkerungsgruppen, so die 55-Jährige. "Die Menschen hier wurden freundlicher zu unserer Gemeinschaft."

Pawel Giza und Tatiana Nakonieczna sind Teil der ukrainischen Minderheit in Przemyśl und helfen den Geflüchteten.
Pawel Giza und Tatiana Nakonieczna sind Teil der ukrainischen Minderheit in Przemyśl und helfen den Geflüchteten.
Daniela Prugger

In den ersten Tagen des Krieges waren es täglich Tausende, die hier ankamen. Viele von ihnen mittellos, ohne Plan, ohne einen Ort für die Übernachtung. Diese Zeiten seien zum Glück vorbei, sagt Nakonieczna. Doch zu normalisieren scheint sich auch das Verhältnis zwischen manchen Gruppen und der ukrainischen Minderheit, die im Bereich der Hilfsleistungen für Geflüchtete gemeinsam mit NGOs den größten Teil vor Ort leistet.

Ressentiments kehren zurück

"Ich würde sagen, dass alles wieder genauso ist wie vor dem großen Krieg", sagt Nakonieczna. Es seien altbekannte Ressentiments, die langsam zurückkehren. Beleidigungen, die sie schon so oft zuvor erlebt habe. "Zurzeit gibt es Gruppen polnischer Nationalisten, die uns anschreien, wir sollten in die Ukraine zurückkehren. Sie müssen bedenken, dass wir eine ukrainische Minderheit hier sind und immer schon hier gelebt haben. Aber diese Gruppen wollen überhaupt keine Art von Ukrainer hier."

Im
Im Dom Ukraiński finden seit Jahren Kulturveranstaltungen der ukrainischen Minderheit in Przemyśl statt. Zu Beginn des Krieges haben hier hunderte Geflüchtete übernachtet, mittlerweile ist das Kulturzentrum ein wichtiger Treffpunkt zum Austausch und für Veranstaltungen.
Daniela Prugger

Schätzungen des Verbands der Ukrainer in Polen zufolge leben seit Kriegsbeginn 10.000 Geflüchtete in Przemyśl. Im gesamten Land sind es laut Uno mindestens 1,1 Millionen. Trotzdem scheint auch an Orten wie diesem die Aufmerksamkeit für den Krieg abzunehmen. "Am Anfang gab es hier die Angst, dass Putin nach Polen kommt, und dann wären wir in Przemyśl die Ersten, die davon betroffen wären", sagt Nakonieczna. "Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass sich die Menschen hier nicht daran erinnern, dass der Krieg noch da ist."

Grenzblockaden als Protest

Dazu kommt, dass Polen zwar noch immer zu den wichtigsten Unterstützern der Ukraine zählt, sich das Verhältnis zum Nachbarland in den vergangenen Monaten aber zu verschlechtern schien. Nur wenige Kilometer von Przemyśl entfernt fanden in den vergangenen Wochen die Grenzblockaden polnischer Transportunternehmer statt, über die international berichtet wurde. Die jüngste Blockade ereignete sich am 9. Februar. Und Andrzej Duda, der polnische Präsident, zweifelte erst kürzlich offen daran, dass Kiew die Krim von der russischen Besatzung zurückgewinnen wird.

Andri und Polina Osadcha, freiwillige Helfer in Przemyśl.
Andri und Polina Osadscha, freiwillige Helfer in Przemyśl.
Daniela Prugger

Einen Anlass, daran zu zweifeln, dass Polen die Ukraine im Kampf gegen Russland weiterhin unterstützen wird, gibt es derzeit keinen, sagt Piotr Buras, der Leiter des Thinktanks European Council on Foreign Relations in Warschau. In den kommenden Jahren werde es vor allem der Prozess der EU-Erweiterung sein, der das Verhältnis zwischen den beiden Nachbarländern auf die Probe stellen wird: "Dabei geht es natürlich um die Agrarpolitik, die Öffnung des gemeinsamen Marktes für Produkte und Dienstleistungen."

Doch all das sei als Fortschritt zu betrachten. Schließlich war das Verhältnis zwischen der Ukraine und Polen jahrelang geprägt von Konflikten über die Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, etwa wegen umstrittener politischer Figuren wie des ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera, der in der Ukraine von vielen als Nationalheld gefeiert wird. "Es ist wichtig zu verstehen, dass die Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine vor Ausbruch des Krieges schlecht waren und die Phase, in der wir jetzt sind, eine Ausnahme darstellt", sagt Buras. "Polen engagiert sich nach wie vor sehr aktiv, um militärische Hilfe zu leisten. Aber man muss auch einsehen, dass die polnische Regierung nicht so viel mehr abzugeben hat. Unsere Militärdepots sind so gut wie leer."

Zu viele Schicksalsschläge

Polina Osadscha, die im Mai 2022 mit ihrem mittlerweile neunjährigen Sohn aus der Ukraine nach Przemyśl gekommen ist, hofft indes auf ein baldiges Ende des Krieges. Seither versorgt sie gemeinsam mit einer Hilfsorganisation andere Geflüchtete. In einem Hilfscontainer, der seit bald zwei Jahren neben dem Bahnhof steht, reicht sie in einer gelben Warnweste einem älteren Herrn einen Becher Tee. An der Wand hängt eine Tabelle mit den Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Züge aus oder in die Ukraine. "Am Anfang, als ich als freiwillige Helferin hierherkam, habe ich mir jede einzelne Geschichte zu Herzen genommen. Schließlich war ich ja selbst in dieser Situation", sagt die 30-Jährige. Mittlerweile habe sie sich aufgrund ihrer hohen Anzahl an die Geschichten über die vielen Schicksalsschläge gewöhnt.

"Ich für meinen Teil möchte einfach nur, dass die Menschen in Frieden gelassen werden", sagt Osadscha. Sie findet, dass man einen anderen Weg finden sollte, um den Krieg zu beenden, denn sonst könnte der so lange dauern, bis auch der letzte ukrainische Mann kämpft. "Vielleicht dachten wir am Anfang, dass wir Russland zerstören müssen, aber wir müssen das Problem vielleicht ohne die Rückeroberung unserer Territorien lösen." Erst dann, wenn die Kämpfe vorbei sind, könne sie sich ein Leben in ihrer Heimat wieder vorstellen, sagt sie. Doch in der Ukraine steht bereits der zweite Jahrestag des Kriegsbeginns bevor. Und die Angriffe mit Raketen und Drohnen hören einfach nicht auf. (Daniela Prugger aus Przemyśl, 14.2.2024)