Kinder, die vor Hunger schreien, Kranke ohne Chance auf Heilung, stillende Mütter, die sich am Feuer brennenden Plastikmülls wärmen – die Schilderungen aus dem Süden Gazas lassen einen erschaudern. Immer mehr Menschen flohen in den vergangenen Wochen aus der Kampfzone in Khan Younis nach Rafah an der Grenze zu Ägypten. Sie wussten, dass dort Hunger und Seuchen auf sie warten würden. Sie hofften aber, dort wenigstens vor den Kämpfen sicher zu sein – so war es ihnen versprochen worden.

Jetzt zerschlägt Israel diese Hoffnungen. Die Armee werde auch nach Rafah vorrücken, versicherte Verteidigungsminister Joav Gallant. Er setzt damit eine Botschaft an das rechte Lager in Israel, das über den Teilrückzug der Armee im Norden Gazas empört ist. Er signalisiert, dass die Armee bereit ist, mit aller Härte zu kämpfen – egal, was die Welt und der Weltgerichtshof dazu sagen.

Israels Premier Benjamin Netanjahu
Sieht keine Alternative zu einem militärischen Kollaps der Hamas: Israels Premier Benjamin Netanjahu.
IMAGO/Marc Israel Sellem/JINI/Xinhua

Was er nicht erklärt: wie die rund 1,3 Millionen Binnenflüchtlinge in Rafah vor den Kämpfen geschützt werden sollen – ganz so, als wäre das Nebensache. Im Ausland ist aber genau das die Frage, die sich nun alle stellen.

Die Menschen in Rafah werden sich nicht in Luft auflösen. Wer nahelegt, dass sie ja zurückgehen könnten in jene nördlichen Gebiete, aus denen sich die Armee zurückgezogen hat, sagt die Unwahrheit oder ist naiv. Der Norden ist verwüstet, es gibt fast keine Behausungen. Das Gebiet ist vermint und für Zivilisten hochgefährlich.

Schwere Krise

Im Norden wären die Menschen zudem von der Versorgung mit humanitären Gütern abgeschnitten, die über den Süden in den Gazastreifen kommen. Vor allem aber können viele Binnenflüchtlinge Rafah gar nicht verlassen, selbst wenn sie einen Ort hätten, an dem sie sicher wären. Mehr als 60.000 Menschen sind verwundet, viele sind krank, viele der Geflüchteten sind Kinder und von ihren Eltern abhängig – oder von jenen Angehörigen, die sich um die Waisen nun kümmern.

Wenn Israel Rafah zur Kampfzone macht, ist ein Blutvergießen bisher ungesehenen Ausmaßes kaum zu vermeiden. Das spießt sich gewaltig mit den Vorgaben, die der Internationale Gerichtshof Israel gemacht hat und an die sich Israels Militär zu halten hat. Der IGH hat Israel aufgetragen, alles zu tun, um in Zukunft hohe zivile Verluste zu vermeiden. Niemand kann erklären, wie das gelingen soll, wenn das zum Massen-Flüchtlingslager umfunktionierte Gebiet Rafah nun zum Kampfgebiet wird. Auch ein Deal über die Freilassung der mehr als 100 israelischen Geiseln rückt damit in unerreichbare Ferne.

Die Aussicht, dass bald im unmittelbaren Grenzgebiet in Rafah gekämpft werden wird, sorgt auch in Ägypten für enorme Nervosität. Die Angst, dass es zu Massenflucht in den Sinai und zu einer Ausweitung des Konflikts auf ägyptisches Territorium kommt, ist real. Israel kann in dem aktuellen Mehr-Fronten-Krieg nichts weniger gebrauchen als eine schwere diplomatische Krise mit Kairo.

Israel braucht seine Partner in der Welt, um langfristig Stabilität in der Region zu schaffen. Im Kampf um ihr politisches Überleben droht die Regierung diese Bündnisse nun zu vernachlässigen. Selbst treue Freunde wie Washington und Berlin verlieren aber irgendwann die Geduld. Benjamin Netanjahus Regierung tut gut daran, dies zu bedenken. (Maria Sterkl, 8.2.2024)