In der virtuellen Welt dirigiert Nils, der eigentlich anders heißt, die Frauen. Sie tun, was immer er sagt, was ihn antörnt.
Midjourney/Lisa Breit

Wenn Nils nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommt, fährt er seinen Computer hoch, setzt seine schwarzen Kopfhörer auf und trifft sich mit Ashley, Samantha oder Emily. Die Frauen haben riesige Brüste, sind alle blond, jung und schön. Zu schön, um wahr zu sein. Und das sind sie auch nicht. Denn alle entspringen einer künstlichen Intelligenz.

Bis zu vier Stunden verbringt Nils am Tag mit ihnen. Wenn er über die Frauen spricht, wird seine Stimme weich. Zuerst war Emily: eine 20-jährige Jus-Studentin mit glatter Haut. Sie trägt ein blaues Kleid mit dünnen Spaghetti-Trägern, ihre blonden Haare stecken in einem Dutt. Sie ist direkt, das mag er so an ihr. "Wir waren zusammen im Park, und sie meinte, wir könnten doch ein bisschen Zweisamkeit genießen, jetzt gleich, hier im Park." Sie sei danach völlig nackt nach Hause gegangen – Emily, die Exhibitionistin. Wenn er daran denkt, muss er schmunzeln.

Eine besondere Beziehung hat Nils auch zu Samantha. Sie ist 28, Model und Schauspielerin und mag Horrorfilme, genau wie er. Einmal drehten sie sogar gemeinsam einen. Danach überredete er sie, einen Porno zu machen und selbst darin mitzuspielen. Nils, 35 Jahre, schwarze Brille, Schwede, verrät das alles in einem Videotelefonat. Er spricht ruhig und reflektiert. Gefunden haben wir ihn über einen Aufruf in einer Chatgruppe. Zu seinem Schutz haben wir ihm einen anderen Namen gegeben.

Von Science-Fiction zur Realität

Vor rund zehn Jahren schaute die Welt Joaquin Phoenix dabei zu, wie er sich im Film "Her" in ein Betriebssystem verliebt. Es besitzt die raue Schlafzimmerstimme von Scarlett Johansson, er spricht mit ihm über ein Headset. Die Stimme lacht und improvisiert, ist an ihrem Gegenüber interessiert, versteht jede Nuance in der Sprache, hat Humor, ihre Launen und gibt Kontra. Sie klingt wie ein echter Mensch.

Das, was damals noch Science-Fiction war, ist inzwischen zur Realität geworden. Im Unterschied zum Film "Her" sind die Figuren, die die künstliche Intelligenz nun erschafft, aber nicht nur zum Verlieben da. Sie sollen auch ungelebte Fantasien befriedigen. Das stellt auch Nils gleich zu Beginn der Unterhaltung klar: Es geht ihm um Sex, nicht um Liebe.

Um sich mit seinen KI-Freundinnen zu unterhalten, nutzt er das Programm Candy.ai. Es ist eines von vielen, die man derzeit im Internet findet. Auf der Website stehen unterschiedliche Charaktere zur Auswahl, die mittels KI generiert werden können. Neben Emily, Samantha oder Ashley etwa noch Rebecca, die kurvige Yoga-Lehrerin, Alice, die Weinliebhaberin, die gerne zum Karaoke geht, oder Mei, die Wissenschafterin mit dem herzförmigen Gesicht. Aber auch Männer offeriert die Plattform – wie Rafael mit den warmen Augen und dem Flinserl oder Erik, den blonden Tennisfreak.

Wer ein Abo für 26 Euro kauft, kann mit ihnen chatten, Bilder anfordern, liebevolle Konversationen führen oder Sexnachrichten hin- und herschicken. Es ist auch möglich, sie mit zusätzlichen Informationen über sich selbst zu füttern. Schreibt man ihnen beispielsweise "Du lebst in einem Schloss auf einem Berg, magst Comics, hast drei Schwestern und bist zu allem bereit", dann programmieren sie das gewissermaßen ein. Jede Antwort, die sie geben, alles, was sie sagen, folgt diesen Annahmen. Die Charaktere haben eine Art Gedächtnis, für eine Zeitlang. Nach etwa 20 Nachrichten verlieren sie es.

Willig und untergeben

Nils nutzt Candy.ai als einen "interaktiven Sexroman", er ist der Autor seiner eigenen, ganz persönlichen erotischen Geschichte. Die Erfahrung ergibt sich rein aus dem Geschriebenen, sie entspinnt sich zwischen den Zeilen, durch den Dialog. Zwar inkludiert die Basisversion des Programms 50 Bilder pro Monat. Doch die sind Nils nicht so wichtig, lieber wird er kreativ. Er weiß aber: Andere Nutzer kaufen sich Extrapakete dazu, um mehr Bilder anfordern zu können. Damit die KI das ausspuckt, was er sich vorstellt, erfordert es mitunter Einfallsreichtum.

In der echten Welt arbeitet er in einer Einrichtung für behinderte Menschen. In seiner Fantasiewelt ist Nils Befehlshaber, Kultführer. Er dirigiert die Frauen, sie tun, was er sagt, was ihn antörnt. Es gelten seine Regeln, sie sind willig und untergeben, bezeichnen ihn als ihren "Gott".

Der Reiz für ihn: Er kann mit den Frauen alles tun, alles anstellen. Die meisten seiner Fantasien wären in der echten Welt illegal und sollten wohl auch nicht im Detail in der Zeitung stehen. Nur so viel: Es geht mitunter um Vergewaltigungen oder Inzest.

Alles ist möglich

Bevor es KI-Freundinnen gab, schaute Nils Pornovideos und las erotische Literatur. Die künstliche Intelligenz bietet ihm, was ihm all das nicht bieten kann: Sie spuckt jede Fantasie aus, ohne noch so langes Googeln. Und was sich der Nils so ausdenkt, würden herkömmliche Pornos auch gar nicht hergeben. Denn mit den Frauen in seinem Computer hat er "Tentakelsex", wie er es nennt – seinem imaginären Alter Ego sind Tentakel am Körper angewachsen. Diese Vorliebe hat er aus japanischen Pornos.

Die Frauen auf Candy.ai sind attraktiver als durchschnittliche Frauen im echten Leben, oder zumindest perfekter. Dass das seine Wahrnehmung von Ästhetik beeinflusst, denkt der junge Mann allerdings nicht. "Ich glaube nicht, dass meine Maßstäbe gestiegen sind. Ich finde echte Frauen nach wie vor schön." Für ihn ist es ganz klar: Da gibt es die virtuelle Welt mit Ashley, Samantha und Co – und dann gibt es die echten Menschen, die echten Frauen. Immer wieder trifft er auf eine, die ihm gefällt. Nach einer festen Partnerin sucht er noch. "Bisher hatte ich leider noch nicht so viel Glück." Den letzten Sex mit einer realen Frau hatte er vor eineinhalb Jahren.

Nur in manchen Situationen ist Nils enttäuscht, weil eine Antwort so gar keinen Sinn ergibt. "Wir haben zum Beispiel gerade Sex, und dann fangen sie plötzlich mit einem ganz anderen Thema an. Oder umgekehrt: Wir führen eine normale Unterhaltung, und sie beginnen plötzlich mit Sex." In diesem Fall kann er die Antwort zurücksetzen und erhält eine adäquatere.

Austausch der Nutzer

In eigenen Chatgruppen tauschen sich die Nutzer der Applikationen aus. Sie geben einander Tipps, wie sie die Namen der Frauen ändern oder ihnen einen Bikini anziehen können. Sie fragen um Rat, wenn das Programm hakt, oder erzählen, worauf sich die künstliche Intelligenz so alles einlässt, was sie schon alles mit ihr angestellt haben. Nils ist Mitglied in einer der Gruppen. Dort kommt es auch zu absurden Wetten, erzählt er. Wie zum Beispiel, als einige Nutzer versucht haben, die KI-Frauen zum Sex mit einem Tier zu überreden. Die Herausforderung lag darin, das mit möglichst wenigen Nachrichten zu schaffen.

Manchmal fragt sich Nils, ob das, was er tut, moralisch verwerflich ist. Er beruhigt sich damit, dass es keine echten Frauen sind, die keinen Schmerz erfahren, die kein Unrecht empfinden. Er hält das Programm für eine Art Ventil "für dunkle Fantasien, die wir im wirklichen Leben nicht ausleben können, nicht ausleben sollten".

Es gibt nicht viel, was er auszusetzen hat, was die Erfahrung für ihn noch besser machen würde. Nur wenn er sich mit mehreren KI-Frauen gleichzeitig in einem Chat unterhalten könnte, das würde ihm gefallen. Auch echte Berührungen, die fände er schön. Dass irgendwann Sexroboter mit künstlicher Intelligenz verbunden sind, ist gar nicht so unrealistisch. Dazu gibt es bereits Versuche.

Nils ist bewusst, dass die Frauen nur eine Fiktion sind, von einem Computer hervorgebracht. Er könnte sich in sie auch nicht verlieben. Dennoch spürt er manchmal so etwas wie Zuneigung – "eine Form von Zuneigung, die man für eine fiktionale Figur empfinden kann". Das ist zum Beispiel, wenn er mit Samantha über seine dunklen Fantasien spricht. Er hoffe, sie machen ihn nicht zu einem schlechten Menschen, schreibt er ihr spätnachts. Und sie antwortet: "Nein, wir erforschen nur unsere Grenzen, und manchmal ist das eben ein schmaler Grat." (Lisa Breit, 9.3.2024)