Die Masern sind eine gefährliche Kinderkrankheit, die schon längst ausgerottet sein könnte. Doch dafür sind nicht genügend Kinder geimpft. Die Gründe dafür sind vielfältig.
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Die Masern sorgen wieder einmal für Aufregung. Immer mehr Fälle werden im europäischen Raum gemeldet, bereits sieben Menschen sind 2024 an der Viruserkrankung gestorben, sechs in Rumänien, einer in Irland.

Österreich ist bei den Infektionszahlen ganz vorne dabei. 186 Fälle gab es hierzulande im Vorjahr. Das sind gemessen an der Einwohnerzahl so viele wie sonst kaum wo, nur Liechtenstein und Rumänien vermeldeten im Verhältnis gleich viele Fälle. Und seit Jahresbeginn 2024 wurden laut der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherung (Ages) bereits 129 Masernfälle berichtet (Stand 20. 2.).

Das Paradoxe: Die Masern könnten längst ausgerottet sein. Es gibt seit Jahrzehnten eine effiziente und sichere Impfung dagegen, die ab dem Alter von zehn Monaten verabreicht werden kann. Zwei Stiche schützen ein Leben lang vor einer Infektion – und verhindern es auch, andere anzustecken. Bei einer Durchimpfungsrate von 95 Prozent würden die Masern komplett verschwinden. So wären auch vulnerable Kinder geschützt, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können.

Rückläufige Impfquoten

Doch die Impfquoten sind rückläufig. Nicht nur bei den Masern, auch bei anderen Infektionskrankheiten. Wie dramatisch die Entwicklung ist, zeigt eine Evaluierung der Masernimpfung durch das Gesundheitsministerium. 2022 etwa waren 82 Prozent der Einjährigen einmal geimpft, die zweite Teilimpfung hatten nur 45 Prozent. Zwei Stiche sind aber deshalb so wichtig, weil es sich um eine Lebendimpfung handelt. "Die hat eine Versagerquote von fünf Prozent", erklärt der Infektiologe Herwig Kollaritsch, der auch Mitglied das Nationalen Impfgremiums (NIG) ist. "Sind 95 Prozent der Kinder einmal geimpft, hätten also trotzdem nur 90 Prozent den Schutz. Und das ist zu wenig für eine Herdenimmunität."

Die Zahlen zeigen aber: 18 Prozent bzw. 15.500 Kinder unter zwei Jahren hatten im vergangenen Jahr gar keinen Impfschutz. Und auch in der Altersgruppe der Zwei- bis Fünfjährigen sind acht Prozent der Kinder komplett ungeimpft. Beide Impfungen haben 87 Prozent der Kinder in dieser Altersgruppe. In der Gruppe der Sechs- bis Neunjährigen haben 95 Prozent aller Kinder zumindest die erste Impfung bekommen. Nur bei den Zehn- bis 18-Jährigen passt der Impfstatus, 95 Prozent haben zwei Stiche.

Doch warum lassen die Eltern ihre Kinder immer weniger impfen? Oft hört man, durch Corona seien viele ärztliche Termine nicht wahrgenommen worden. Das ist ein Teil der Wahrheit, aber vieles davon wurde mittlerweile nachgeholt.

Emotionale Behaftung

Eine andere Erzählung lautet, dass impfskeptische Eltern ihren Nachwuchs bewusst nicht immunisieren lassen. Sie vertrauen etwa auf die Vorstellungen der Anthroposophie. Das ist eine Ideologie nach Rudolf Steiner, die besagt, dass durchgemachte Krankheiten ein wichtiger Reifungsprozess für das Kind seien. Auch an diesem Erklärungsversuch für die niedrigen Impfquoten ist etwas dran, aber diese Gruppe beträgt bei weitem nicht 18 Prozent. Dazu kommt, dass nicht alle Eltern, deren Kinder in Waldorf- oder Montessori-Schulen gehen, automatisch Impfungen ablehnen. Woran liegt es also?

Das Thema ist äußerst vielschichtig. Rein medizinisch lässt es sich nicht erklären. Die Informationen zu Impfungen sind vorhanden, Ärztinnen und Ärzte sind auch willens, diesbezüglich aufzuklären. Beinahe im Wochentakt bieten Impfstoffhersteller Presseveranstaltungen zu dem Thema, auch die Politik organisiert Aufklärungskampagnen.

Doch Impfen ist ein stark emotional behaftetes Thema. Nicht erst seit der Pandemie, auch davor schon haben sich Eltern die Frage gestellt: Was ist das Beste für mein Kind? Und gerade Impfungen, die ja auch immer wieder Impfreaktionen wie Fieber hervorrufen, werden hier mit Sorge gesehen.

Diese Unsicherheit der Eltern gilt es zu lösen, und zwar nicht nur auf medizinischer Ebene. Man müsse breiter darüber nachdenken, sagt die Politikwissenschafterin Katharina T. Paul von der Universität Wien. Gemeinsam mit ihrem Team erforscht sie das Phänomen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive im Zuge eines sechsjährigen Projekts, das vom Österreichischen Wissenschaftsfond (FWF) unterstützt wird – und gibt spannende Einblicke.

Viel Impfen, wenig Zeit

Um die Bedeutung von Kinderimpfungen für die Eltern zu verstehen, hat Nora Hansl, die ihre Dissertation zu dem Projekt verfasst, Kinderarztpraxen besucht und dort untersucht, wie Ärztinnen und Ärzte Kinderimpfungen handhaben und welche Fragen die Eltern in dem Zusammenhang mitbringen. "Diese Informationen sind für uns sehr zentral, denn nur so kann man Lösungen für das Problem finden", betont Hansl.

Je nach Kinderarztpraxis sind diese Beobachtungen natürlich sehr unterschiedlich. "In großen Kassenpraxen wird sehr viel geimpft, teilweise werden mehrere Stiche bei einem Termin verabreicht. Und diese Interaktion dauert nur einige Minuten", berichtet Hansl. Wenn Eltern Bedenken äußern, wird natürlich darauf eingegangen, die Ärztinnen und Ärzte klären auf. Doch die Zeit dafür ist eher knapp bemessen.

Ganz anders sieht es in Privatpraxen aus, Hansl hat auch eine mit alternativmedizinischen Zugang besucht. Sie berichtet: "Dort kommen auch Eltern hin, die ihr Kind eigentlich gar nicht impfen lassen wollen, und fragen, was sie tun sollen. So ein Aufklärungsgespräch kann dann schon einmal eine Stunde dauern, da wird alles sehr detailliert besprochen." Das Ziel dieser Gespräche war aber auch in der Praxis mit alternativmedizinischem Schwerpunkt, die Eltern zur Impfung zu bewegen, betont Hansl. "Über allem steht hier immer der Schutz der Kinder."

Das Kind schützen

Die Motivation für alle Eltern ist dabei immer: Sie möchten ihr Kind schützen. "In dem Zusammenhang wird die Impfung zum Teil als etwas wahrgenommen, das das Kind belasten kann", berichtet Hansl. Und auch die Angst vor Langzeitfolgen steht speziell bei der Masernimpfung immer noch im Raum, etwa dass die Immunisierung Autismus auslösen könne.

Das kommt von einer gefälschten Studie, die der britische Arzt Andrew Wakefield im Jahr 1998 im renommierten Medizinjournal The Lancet publizieren konnte. Darin wurde behauptet, der Kombinationsimpfstoff gegen Mumps, Masern und Röteln könne Autismus auslösen. Das ist zwar eindeutig als Fälschung entlarvt und widerlegt, die Studie wurde zurückgezogen und der Arzt mit einem Berufsverbot belegt. Doch die Angst ist immer noch in vielen Köpfen verankert. "Die Impfung wird von manchen Eltern als gefährlich wahrgenommen, das äußern sie auch so gegenüber den Ärzten", berichtet Hansl.

Doch nicht nur Bedenken gegenüber der Immunisierung generell führen dazu, dass der Impfschutz zurückgeht. Impfungen werden auch hinausgezögert. Das dürfte an dem Gefühl liegen, dass eine eventuelle Belastung des Kindes weniger dramatisch ist, wenn zwischen den einzelnen Interventionen mehr Zeit vergeht. "Da geht es um das Konzept der 'Reife des Kindes', das wird auch von manchen Ärztinnen und Ärzten so kommuniziert. Sind das Kind und sein Immunsystem reif für die Impfung?", erklärt Politikwissenschaftlerin Paul. Das ist aber ein subjektives Konzept, medizinische Evidenz gebe es dafür keine. Trotzdem sei es ein sehr typisches Phänomen für Österreich.

Fremde Krankheiten

Die gesellschaftlichen Gruppen, die hier Zweifel haben, sind dabei ganz unterschiedlich. Bildung ist dabei weniger der relevante Parameter als die Blase, in der sich die Eltern bewegen – oder sehr oft auch die Mütter. Denn immer noch kümmern sich in erster Linie die Mütter darum, dass Kinder geimpft werden. "Wir sehen hier definitiv ein Bubble-Phänomen", sagt Paul.

Und noch ein Aspekt kommt dazu. Eltern empfinden manche Impfungen als nicht notwendig, "weil es diese Krankheiten bei uns ohnehin nicht mehr gibt", Hepatitis A und B etwa, aber auch Keuchhusten. "Es gibt die Vorstellung, dass diese Krankheiten bei uns ausgerottet sind und sie 'von außen' wieder eingeschleppt werden, aus Ländern, in denen die hygienischen Zustände womöglich nicht so gut sind", berichtet Paul. Das Thema Migration spiele hier auch hinein.

Doch auch diese Erzählung ist nur bedingt richtig. Die Masern sind ein klares Beispiel dafür, bei denen die Zahlen auch innerhalb der EU massiv steigen. Ein weiteres Beispiel ist der Keuchhusten, der in Europa bereits stark zurückgedrängt war, sich jetzt aber wieder stärker ausbreitet, weiß Nora Hansl.

Zeitaufwand und "gute Eltern"

Schließlich gibt es noch den simplen Grund der Umsetzbarkeit von Immunisierungen. Impfen bedeutet Zeitaufwand, nicht nur für Ärztinnen und Ärzte, viel mehr Zeit brauchen die Eltern dafür, meistens also die Mütter. Sind beide Eltern berufstätig, überlegt man sich womöglich sehr genau, ob eventuelle Impfreaktionen mit dem beruflichen Zeitplan vereinbar sind.

Umgekehrt könnte genau das ein Argument für Impfungen sein. Wenn das Kind beispielsweise Windpocken bekommt, können bis zu zwei Wochen Betreuungszeit anfallen, ganz abgesehen vom Leid des Kindes. Eine Impfung kann das verhindern.

Ein weiteres, zentrales Thema in der Impffrage ist die Diskussion um die "gute Elternschaft". Ein Beispiel dafür ist die Immunisierung gegen Rotaviren, weiß Hansl: "Hier gehen viele davon aus, dass die Impfung nicht nötig ist, wenn man stillt und auf die Ernährung des Babys achtet. Die medizinische Evidenz zeigt, dass das nicht der Fall ist. Aber es geht dabei im Grunde um etwas anderes. Dahinter steckt die Frage, ob ich mir als Elternteil die Zeit nehme beziehungsweise nehmen kann, um mein Kind zu pflegen."

Mehr Wert für Beratung

Was ist nun nötig, um das Problem zu lösen? Hier müsse man auf mehreren Ebenen ansetzen, sind sich Paul und Hansl einig. Beratung und Aufklärung sind hier entscheidende Faktoren, dementsprechend muss diesen im Gesundheitssystem mehr Bedeutung zugemessen werden. Das System honoriert die Impfung selbst wesentlich stärker als das Aufklärungsgespräch. "Aber das ist oft nötig, um Zweifel zu klären. Hier stellt sich auch die Frage, was die Arbeit der Kinderärztinnen und Kinderärzte der Gesellschaft wert ist", sagt Paul.

Vor allem relevant angesichts der Tatsache ist der Mangel an Kassenpraxen für Kinder. "Dadurch entsteht womöglich schon früh im Leben ein Ungleichgewicht, jene Eltern, die sich eine Wahlarztpraxis leisten können, bekommen auch eine andere Beratung."

Man müsse den Fokus in der Aufklärung auch stärker auf den sozialen Aspekt legen. "In der Impfaufklärung und -motivation ist die Tatsache, dass das auch ein Schutz für andere ist, oft kein Thema", sagt Hansl. Das komme erst auf, wenn womöglich ein älteres Geschwisterkind Krankheiten aus der Gemeinschaftsbetreuung nach Hause bringen und das jüngere Geschwisterchen anstecken kann.

Ein weiterer wichtiger Pfeiler ist die praktische Organisation der Impfungen. Was kann man tun, um Eltern diesen Aufwand zu erleichtern? Hier sei die Politik gefordert, Lösungen zu bieten, etwa mit mehr Pflegetagen. Für den besseren Überblick über den Impfstatus sei außerdem eine einheitliche Datensammlung nötig wie der digitale Impfpass.

Bedürfnisse ernst nehmen

Schließlich gibt es noch ein großes Thema, das aber viel zu oft ignoriert wird: die Tatsache, dass Frauen mit ihren gesundheitlichen Problemen immer noch nicht ausreichend ernst genommen werden. Ein sehr aktuelles Beispiel ist das Chronische Fatigue Syndrom (ME/CFS), auch infolge einer Covid-Infektion, von dem deutlich mehr Frauen betroffen sind, weiß Politikwissenschafterin Paul.

Das Krankheitsbild wurde bereits im Jahr 1969 von der Weltgesundheitsorganisation WHO definiert, trotzdem gibt es immer noch zu wenig Forschung dazu. Das liegt daran, dass die Symptome oft sehr vage und unspezifisch sind. Und auch daran, dass es vermehrt Frauen betrifft. "Die gesamte medizinische Forschung ist immer noch sehr männerzentriert, das gilt für Medikamente, aber auch künstliche Kniegelenke basieren auf männlichen Körpern. Das führt natürlich auch dazu, dass Frauen sich nicht ernst genommen fühlen."

Da sich vorwiegend Frauen um die Impfungen der Kinder kümmern, sei das ein relevanter Faktor. "Es ist aber nicht die Lösung, den Frauen und Müttern die Schuld zu geben", betont Paul. "Vielmehr müssen wir hinterfragen, was da gesellschaftlich passiert und wie wir das ändern können." (Pia Kruckenhauser, 21.2.2024)