Einst poli­tischer Treffpunkt, heute Kaffeehaus, Bar und Buchhandlung – das Caffè San Marco blickt auf 110 Jahre Geschichte zurück.
Georges Desrues

Wer für die Verwüstung des Kaffeehauses am 23. Mai 1915 tatsächlich verantwortlich war, wurde nie restlos geklärt. Doch wird vermutet, dass österreichische Soldaten in Zivil Anführer des Anschlags waren, der unmittelbar nach dem Kriegs­eintritt Italiens an der Seite der Westmächte verübt wurde. An diesem Tag vergriff sich der habsburgertreue Mob noch an weiteren Symbolen der Irredentisten, die sich für eine Angliederung des damals noch österreich-ungarischen Triest an Italien einsetzten. Die Statue des Komponisten Giuseppe Verdi, die Redaktion der Tageszeitung "Il Piccolo" und gleich mehrere Kaffeehäuser wie eben das etwas mehr als ein Jahr zuvor eröffnete Caffè San Marco fielen den Monarchisten zum Opfer.

"Sehen Sie die Verzierungen an den Wänden?", fragt Alexandros Delithanassis: "Sie stellen Kaffeepflanzen dar. Heute sind sie braun, aber damals waren sie mehrfärbig: die Blätter grün, die Kirschen rot und die Zwischenräume weiß – die Farben der italienischen Trikolore, also." Ein Irredentisten-Treffpunkt sei das San Marco gleich nach seiner Eröffnung im Januar 1914 gewesen, sagt Gastronom Delithanassis, der das mythische Kaffeehaus heute betreibt.

Tischnachbarn der italienfreundlichen Verschwörer waren damals die Intellektuellen, Schriftsteller, Künstlerinnen, Journalisten und Schauspielerinnen der Stadt. Eine ähnliche Gruppe also wie in vergleichbaren Etablissements in Wien, mit dem Unterschied, dass hier vornehmlich auf Italienisch getratscht, debattiert und konspiriert wurde. Denn im bedeutendsten Hafen der Monarchie mit seinen zu der Zeit knapp 250.000 Einwohnern betrug der Bevölkerungsanteil der Deutschen (wie man sie damals nannte) laut Volkszählung von 1910 gerade einmal sechs Prozent.

Wiener Vorbild

Über den Kaffee verbunden waren Triest und Wien schon zuvor. Tatsächlich bildete die Hafenstadt die Grundlage der vielgerühmten Wiener Kaffee- und Kaffeehauskultur. Bereits im 17. Jahrhundert wurden hier die ersten Säcke mit Kaffee gelandet, bis es mit der Eröffnung der Südbahnstrecke im Jahr 1857 und mit jener des Neuen Hafens (des heutigen Alten Hafens) einige Jahre später erst so richtig losging. Vor Ende des 19. Jahrhunderts zählte man in Triest circa hundert Kaffeeverkaufsstellen, über 60 Kaffeeimportfirmen, zehn Röstereien und mehrere Kaffeehäuser nach Wiener Vorbild. Von ihnen haben neben dem San Marco noch ein paar weitere überlebt, darunter das bereits 1830 eröffnete und nach einem irredentistischen Dichter benannte Caffè Tommaseo.

"Das San Marco ist jedoch das einzige, dessen Einrichtung abgesehen von kleineren Veränderungen aus den 1930er-Jahren und einer Generalsanierung 1989 im Original erhalten ist", betont Delithanassis. Zu den Veränderungen aus den 1930er-Jahren zählen etwa die Bilder von Karnevalsmasken an den Wänden, darunter auch jene, die Mussolini, Hitler und den japanischen Kaiser Hirohito darstellen, wie der Cafetier erklärt, der, wie sein Name vermuten lässt, griechischer Abstammung ist.

Multikulturelles Triest

Delithanassis gehört einer Gemeinde an, die, genau wie die serbische und die große slowenischsprachige Minderheit, seit der Monarchie den multikulturellen Charakter der Stadt prägt. Wie bedeutend auch die jüdische Gemeinde einst war, bevor sie von Mussolini kaltgestellt und von Hitler deportiert und großteils ermordet wurde, zeigt sich übrigens an der mächtigen Synagoge, die gleich neben dem Caffè liegt.

Alexandros Delithanassis betreibt das Caffè San Marco. Mit seiner griechischen Abstammung passt er gut ins multikulturelle Triest.
Georges Desrues

Im Jahr 2013 und nach dem Tod des damaligen Betreibers rief der Besitzer der Immobilie, die in Triest ansässige Generali-Versicherungsgesellschaft, eine Ausschreibung aus, die Delithanassis gewann. "Überzeugen konnte unser Konzept damit, dass wir in jenem Teil, in dem einst die Billardtische standen, eine Buchhandlung einrichteten", sagt der 44-Jährige, der nebenbei einen eigenen Verlag betreibt.

Das Konzept passte umso besser, als sich Triest gerne als "Literatenstadt" versteht und das weitläufige Kaffeehaus mit seinem Interieur im prachtvollen Jugendstil, seinen schwarzen Lederbänken, marmornen Tischen und großen Wandspiegeln stets auch ein Treff für Schreibende war – und bis heute ist. So hat hier etwa der wohl berühmteste lebende Schriftsteller der Stadt, der 1939 geborene Germanist, Mitteleuropa- und Habsburger-Experte Claudio Magris seinen Stammtisch. Im Unterschied zum klassischen Wiener Kaffeehaus gibt es zudem einen mächtigen Tresen, der Gäste zum Stehkaffee und zum Aperitivo anzieht.

Für den Espresso (die Tasse um 1,30 Euro) sorgt eine imposante, turmförmige Espressomaschine, Modell "Elektra Belle Epoque", während der Kaffee selbst von einem sogenannten "crudista" geröstet wird. Darunter versteht man einen Importeur von Rohkaffee, der die Bohnen in seiner Rösterei im Hafen nach Wunsch und Zusammenstellung von Delithanassis röstet. Ein Luxus mit damit einhergehender, für Wiener ungewohnter Qualität, den die Lage des Kaffeehauses in einer Hafenstadt erst möglich macht.

Verklärte Nostalgie

Dank der Dreifachfunktion des Lokals als Buchhandlung, Wiener Kaffeehaus und italienische Bar werden immer wieder Lesungen, Buchvorstellungen und sonstige kulturelle Events, aber auch Wein- oder Kaffeeverkostungen abgehalten. Damit hat Delithanassis erreicht, dass das San Marco im Unterschied zu vielen Wiener Pendants heute kein verschlafener, musealer Ort der Nostalgie ist, sondern ein sehr lebendiges kleines Kulturzentrum, dessen Bedeutung für die Lebensqualität in Triest nicht zu unterschätzen ist.

Naturgemäß ist das Lokal auch eine Touristenattraktion. Vor allem Gäste aus Österreich kommen gerne, sehen sich um, fotografieren, bewundern die vertraute Kaffeehausatmosphäre und fühlen sich zurückversetzt ins Triest der Habsburger. Man bemüht das uralte Klischee von "Triest, das Wien am Meer" und vergießt eine Träne darüber, dass die Stadt "nicht mehr uns gehört". Dabei sind sich wohl die wenigsten bewusst, dass das San Marco zwar ein Kaffeehaus nach Wiener Vorbild ist, aber eben auch für den Wunsch der Triester nach Vertreibung der Habsburger steht – nach Loslösung von Wien und Angliederung an Italien.

Dabei belegt das allein schon der Name. Der bezieht sich nämlich auf den Schutzpatron der Republik Venedig, der einstigen großen Rivalin der k. u. k. Monarchie an der Oberen Adria. (RONDO, Georges Desrues, 25.2.2024)