Jurij Bowa hat das Träumen nicht verlernt. Vielleicht, weil er schon so viele Albträume durchlebt hat. Trostjanez im Nordosten der Ukraine, seine Geburtsstadt und die Stadt, der er als Bürgermeister vorsteht, gehörte zu den ersten, die im Morgengrauen des 24. Februar 2022 von russische Panzern überfallen wurden.

Trostjanez wurde zu einem Stützpunkt der russischen Truppen, die 20.000 Einwohner der Stadt zu ihren Gefangenen. Manche wurden gefoltert und exekutiert, man fand gefesselte Leichen, die mit Schuss von hinten hingerichtet wurden, Menschen mit gebrochenen Fingern. Als die Russen nach einem Monat abzogen, nahmen sie Fernseher, Laptops, Beautyprodukte in gestohlenen Autos mit und hinterließen dafür Minen.

Ein Monat ohne Heizung

Jetzt, fast zwei Jahre später, stapft Jurij Bowa über einen Acker in Bruck an der Leitha, der gleichzeitig ein Solarpark ist. Agrophotovoltaik nennt man es, wenn neben Gemüse auf der gleichen Fläche auch Strom geerntet wird. Bowa geht in die Hocke und streicht mit seiner Hand über das schwarze Karomuster der Solaranlage. Er hatte auch in Trostjanez einen Solarpark geplant, dafür ein deutsches Unternehmen an Bord geholt. "Aber wir hatten es nicht so eilig", gibt der 52-Jährige zu.

Das ist jetzt anders. Denn mit den Russen kamen die Blackouts. "Wir haben eineinhalb Monate teilweise ohne Strom, Heizung und warmes Wasser gelebt", sagt Bowa. Die russische Armee beschoss gezielt Kraftwerke, Umspannanlagen und Stromleitungen und legte so die Energieversorgung in vielen Teilen des Landes lahm. Das soll sich nicht wiederholen.

Jurij Bowa will seine Stadt Trostjanez mit nachhaltigen Energien resilienter gegen russische Luftschläge machen. Eines Tages soll die Gemeinde ganz unabhängig vom Gas aus Russland sein.
Philip Pramer

"Wir müssen deshalb darüber nachdenken, wie wir die Energieversorgung so bauen können, dass sie umweltfreundlich und autonom ist", sagt Bowa. Statt großer Kraftwerken sollen jetzt auch kleinere Anlagen Energie liefern. Microgrids, also kleine, voneinander unabhängige Stromnetze, könnten diese verteilen. Wenn eines von ihnen ausfällt, arbeiten die anderen weiter. Das macht es für Angreifer schwieriger, die Energieversorgung lahmzulegen.

Selbstversorgtes Krankenhaus

"Jetzt geht alles schneller", sagt Bowa. Innerhalb kürzester Zeit wurde auf dem Dach des städtischen Krankenhauses eine Photovoltaikanlage installiert, die im Sommer den gesamten Strombedarf der Klinik deckt. Geheizt wird nun mit Holz statt Gas. "Nicht ideal", gibt der Stadtchef zu. Aber er spricht schon von einer Wärmepumpe, die das Krankenhaus eines Tages versorgen soll.

Bowa ist einer von zehn Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, die Greenpeace nach Wien eingeladen hat, um ihnen Inspirationen für einen grünen Wiederaufbau zu mitzugeben. Davor stand die Besichtigung des anliegenden Windparks auf dem Programm.

Wie man denn eigentlich so ein Windrad aufbaut, fragt ein Bürgermeister, der eines aus Deutschland geschenkt bekommen habe. Wie viele Haushalte so ein Ding versorgt, ein anderer. Wie das mit den Vögeln sei, eine Bürgermeisterin. Dazwischen fotografieren die Stadtchefs eifrig Typenschilder von Trafostationen, machen Selfies und drehen Kurzvideos für Social Media.

"Grüne Energie, das ist die Zukunft", sagt Lesia Michno, Bürgermeisterin der ostukrainischen Gemeinde Apostolowe, die nur 20 Kilometer vor der Frontlinie liegt. Die Windräder selbst zu besteigen, Solarpaneele anzufassen, Wärmepumpen und Müllverbrennungsanlagen selbst zu besuchen, das sei eben doch was anderes, als sie nur in einem Zoom-Call zu sehen, sagt sie. Es spendet Hoffnung, über die Zukunft nach dem großen Krieg nachzudenken.

Die andere Krise

Doch darf man in einer Krise, die zu den größten gehört, die der europäische Kontinent in jüngster Zeit erlebt hat, überhaupt über die andere große Krise nachdenken? Wo nicht Tote und Verletzte, sondern Tonnen CO2 und Zehntelgrad gezählt werden?

Menschen wie Bowa sagen: Man muss. "Man kann nicht einfach jahrelang im Keller sitzen und auf das Ende des Krieges warten." Die Menschen haben sich an den Krieg gewöhnt. Bei Luftalarm wird einfach weitergearbeitet. Er ist stolz darauf, inzwischen 60 Prozent der Gebäude wiederaufgebaut zu haben, fast alle Menschen seien nach Trostjanez zurückgekehrt. Auch, weil es eine zuverlässige Energieversorgung gibt.

Lesia Michno, Bürgermeisterin von Apostolowe, glaubt an die Zukunft grüner Energie – auch in der Ukraine.
Philip Pramer

Das sei nicht überall so. Aus Städten, die nicht mit dem Wiederaufbau begonnen haben, würden Menschen immer noch wegziehen oder nicht mehr zurückkehren. "Es geht auch nicht nur darum, alles so aufzubauen, wie es vorher war", sagt Bowa. "Sondern besser, effizienter." Und vor allem: ohne von russischem Öl und Gas abhängig zu sein.

Ukraine hält an Klimazielen fest

Das Klimaschutzzeugnis der Ukraine war bisher eher durchwachsen. Wie in den meisten Post-Sowjet-Staaten sanken die CO2-Emissionen zwar rapide, nachdem die oft ineffiziente Schwerindustrie nach der Wende zusammenbrach. Das eigene Klimaziel, bis 2030 um 65 Prozent weniger Treibhausgase als 1990 auszustoßen, hat die Ukraine deshalb bereits übererfüllt.

Dennoch emittierte das Land vor dem Krieg für jeden Dollar Bruttoinlandsprodukt mehr als doppelt so viel CO2 wie Österreich oder Deutschland. Die NGO Climate Action Tracker, welche die Klimapolitik von Staaten analysiert, gab dem Land mit "höchst unzureichend" 2021 die zweitschlechteste Wertung. Neben Atomkraft, die den Großteil des Strombedarfs deckt, investierte die Ukraine in den vergangenen Jahren mehr in den Ausbau von Wind- und Solarkraftwerken. Da sie vor allem im von Russland besetzten Südosten des Landes liegen, steht der Großteil nun still.

Nach dem Krieg will die Ukraine den Weg zur Klimaneutralität, die 2060 erreicht werden soll, wiederaufnehmen. Ein Drittel des 2022 vorgestellten, 750 Milliarden Dollar schweren Wiederaufbauplans soll in dezidiert grüne Projekte fließen. Bis 2035 sollen staatliche Kohlekraftwerke stillgelegt werden. Milliarden sollen in die klimafreundlichere Stahlherstellung und neue Hochgeschwindigkeitsstrecken fließen, die mit westlicher statt der bisher üblichen russischen Spurweite ausgestattet sind. Dann, so die Vision, könnten Züge direkt von Mitteleuropa nach Lwiw, Kiew und noch weiter fahren.

Die russischen Truppen haben die Stadt Trostjanez schwer beschädigt. Das Foto wurde im März 2022 aufgenommen.
APA/AFP/FADEL SENNA

Kein Gas aus Russland mehr

Was die Ukraine im Großen will, versucht Bowa im Kleinen in seiner Gemeinde umzusetzen. Österreichische und ukrainische Consultingfirmen haben einen Plan erarbeitet, wie Trostjanez bis 2050 unabhängig von Gas werden kann. Auf mehr als 1.000 Dächern will Bowa Photovoltaik-Anlagen installieren lassen, geheizt werden soll mit Wärmepumpen und Biogas.

"Das wären langfristig günstigere Energiequellen, die nicht so einfach zerstört werden können", sagt der Bürgermeister. In vielen der beschädigten Gebäude müssten sowieso neue Heizsysteme und Fenster eingebaut werden. Da kann man es auch gleich nachhaltig machen. 18 Millionen Euro soll das Projekt in Summe kosten.

Dass das nicht einfach wird, ist auch Bowa klar. Denn woher das Geld – die Millionen für Trostjanez, die hunderten Milliarden für die Ukraine – kommen soll, ist noch unklar. In seiner Stadt seien sich alle bewusst, dass der Krieg noch sehr lange andauern könnte. Aber man müsse weiterarbeiten, die Wirtschaft stärken, produktiv sein, sagt der Bürgermeister. Eines Tages, so glaubt er, werde man sich von jeglicher Abhängigkeit von Russland befreit haben. "Wir werden diese schwierige Situation überstehen." Davon ist Jurij Bowa ganz fest überzeugt. (Philip Pramer, 24.2.2024)