Tanja Maljartschuk
Maljartschuk: "Die Liste der Zivilopfer, allein im Kulturbereich, ist furchtbar lang."
Ingo Pertramer

Nach einigen Anstrengungen meinerseits beginne ich nun endlich mit einem lang versprochenen Essay über Solidarität und Humanismus in finsteren Zeiten. Aber bevor ich den ersten Satz schreibe – was zu einer neuen Gewohnheit geworden ist –, checke ich die Luftalarmkarte der Ukraine und lese die Schlagzeilen der wichtigsten Nachrichtenagenturen. Ausgerechnet heute sollten die Justizbehörden die Mörder des ukrainischen Kinderbuchautors Wolodymyr Wakulenko identifiziert haben. Letztes Jahr wurde Wolodymyr Wakulenko in der Region Charkiw entführt und galt lange als vermisst. Erst nach der Befreiung dieser Gebiete von der russischen Besatzung konnte man seine Leiche zusammen mit vierhundert anderen Ermordeten in einem Massengrab in der Nähe der Stadt Isjum auffinden. Ich sehe mir die unscharfen Fotos der vermeintlichen Mörder an, Löwe und Wiedehopfsollen ihre militärischen Rufnamen sein, und ich kann nicht, ich WILL nicht an die längst bestätigte Wahrheit glauben, dass normale Menschen unter günstigen Bedingungen zu grausamen Taten fähig sind. Krieg bietet die bestmögliche Bedingung für Grausamkeit. Wie mein Kollege aus Sarajewo, der bosnische Autor Dževad Karahasan, es in seinem Tagebuch der Übersiedlung einmal zum Ausdruck brachte: "Krieg ist ein Loch in der Existenz." Ich stelle mir die Frage, ob es überhaupt möglich ist, sich in dieses schwarze Nichts des Krieges nicht stürzen zu lassen. Vor allem, wenn man miterlebt, wie alles, was einem lieb und wert ist, Tag für Tag, Rakete für Rakete, Panzer für Panzer, Nachricht für Nachricht, Nachruf für Nachruf hineingesaugt wird. Als ohnmächtiger Zeuge — wie hält man das aus? Was kann man dagegen tun?

Bis heute nicht geheilt

Jeder, der sich ein wenig mit der ukrainischen Geschichte auskennt, konnte sich nach dem Angriff Russlands ziemlich genau vorstellen, was die Okkupationsmacht für die ukrainische Kultur bedeuten würde. Mindestens dreimal im Laufe des 20. Jahrhunderts kam es bereits zu Massakern an der ukrainischen Kulturelite. Wunden und Abgründe, die sie hinterließen, sind im kollektiven Gedächtnis der Ukrainer:innen bis heute nicht geheilt. In der Dämmerung des unvergesslichen Morgens des 24. Februar 2022 war dies das Erste, woran ich dachte — sie müssen gerettet werden. Die Geschichte darf sich mit solch infernalischer Exaktheit nicht wiederholen. Ein Mitarbeiter eines Verlags in Charkiw, mit dem ich früher zusammenarbeitete, hat auf seiner Social-Media-Seite eine Nachricht veröffentlicht, die ich wohl auch nie vergessen werde: "Herzliche Grüße von meinen ergrauten Kindern". Seine Stadt wurde in der Zeit massiv angegriffen.

Der renommierte, sich ebenfalls in Charkiw aufhaltende ukrainische Schriftsteller Serhij Schadan fotografierte hingegen von Tag zu Tag den blauen, ruhigen Himmel über Charkiw und postete aufmunternde Nachrichten, die ohne Übertreibung in der ganzen Welt verfolgt und gelesen wurden. Ich fragte mich damals ständig, so egoistisch es jetzt auch klingen mag, was ich ohne meinen beruflichen und freundschaftlichen Bekanntenkreis in der Ukraine machen würde. Wenn sie alle plötzlich verschwinden — was bin ich überhaupt noch ohne sie? Seit 2011 in Wien und 2022 in Sicherheit lebend, fühlte ich mich wie ein nutzloser verlorener Handschuh, von der eigenen Gemeinschaft, die in tödlicher Gefahr schwebte, völlig abgeschnitten und nicht in der Lage, ihr in irgendeiner Weise zu helfen. In jenem Augenblick verstand ich die mit einem tiefen Schuldgefühl gemischte, erdrückende Einsamkeit derer, die es geschafft haben, Verheerungen aller Art zu überleben, während die anderen, mit denen sie sich zusammengehörig fühlten, dies nicht taten.

"Bist du in Sicherheit?!"

Im März 2022 blieben viele meiner privaten Nachrichten — wie die Schreie ins Nichts — unbeantwortet. "Wie geht es dir??", "Bist du in Sicherheit?!", "Hallo!", "Ich hoffe, es geht dir gut ..." Erst nach Tagen oder sogar Wochen meldeten sich meine Empfänger, wortkarg, manchmal nur mit einem Okay, was mir vollkommen ausreichte. Die anderen wiederum ärgerten sich, wenn ich sie anflehte, die Ukraine zu verlassen. "Wir reisen nicht aus, Tanja!", haben sie geschrieben. Oder auch: "Wir brauchen kein Geld." "Alles ist in Ordnung, ich schlafe im Badezimmer." Das Bedürfnis, sie alle zu schützen, ging so weit, dass ich nicht einmal bemerkte, wenn ich persönliche Grenzen überschritt und Menschen mit meinen Hilfsangeboten demütigte. Ich musste neu lernen, wie man hilft und über die Hilfe spricht, trotz oder gerade wegen der Tatsache, dass es bereits viel zu viele gab, denen keiner mehr helfen konnte.

Den ukrainischen Streitkräften ist es zwar gelungen, das Schlimmste abzuwenden, nämlich die Besatzung großer ukrainischer Städte, und doch fanden unzählige Kulturschaffende in den blockierten Städten Butscha, Irpin und Mariupol ihren gewaltsamen Tod. Der Dirigent Jurij Kerpatenko wurde in seiner Wohnung im okkupierten Cherson allein deshalb erschossen, weil er sich geweigert hatte, ein Konzert zum Tag der Musik zu geben. Viele andere starben unter den Trümmern ihrer Häuser oder in ihren Autos beim Versuch zu fliehen. Oder sie waren wochenlang in Kellern eingesperrt, ohne Medikamente und Nahrungsmittel. Oder sie wurden gefoltert und erlagen ihren Verletzungen ...

Charkiw
Der Himmel über Charkiw ist nicht immer blau und ruhig: hier ein zerstörter Wohnblock in der Stadt im Nordosten der Ukraine.
IMAGO/Ukrinform

Zeugen der Gewalt

Die Listen der Zivilopfer allein im Kulturbereich sind sorgfältig zusammengestellt und furchtbar lang. Ihre Geschichten lesen sich wie ungeschriebene, aber bereits beendete Romane, ohne die vielen Details, aber mit Hoffnung auf Rettung, die dann doch nicht ankam. Solche Geschichten hätte nur der Krieg schreiben können, niemals ein Schriftsteller. Wie diese da, zum Beispiel, über die Leiterin eines Heimatmuseums in einer ostukrainischen Kleinstadt. Während der Besatzung schaffte es die Frau, deren Namen ich nicht nennen möchte, wertvolle Exponate, darunter uralte bestickte Hemden, bei den Ortseinwohnern zu verstecken. Dies war eine mutige und wichtige Aktion, vor allem, wenn man bedenkt, wie viele ukrainische Museen in den besetzten Gebieten geplündert und ausgeraubt wurden. Im Herbst 2022 kam die ersehnte Befreiung. Das Museum fing allmählich wieder an zu arbeiten, und man konnte hoffen, dass alle Schwierigkeiten überwunden seien. Bis zu diesem Frühjahr, als eine russische Rakete direkt ins Museum einschlug. Dabei wurde das Gebäude vollkommen zerstört und die Leiterin des Museums unter den Ruinen tot aufgefunden.

Eine andere unmögliche und trotzdem wahre Geschichte las ich auf der Social-Media-Seite der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Sie ist kurz und geht so: Im Alter von zehn Jahren überlebte Wanda Obiedkowa die Deutschen, indem sie sich in einem Keller in Mariupol versteckte; 81 Jahre später, als sie sich vor den Russen versteckte, starb sie in einem Keller derselben Stadt.

Bei solchen Lektüren und nach all der Verzweiflung, die sie hervorrufen, denke ich manchmal daran, dass die Stärke jener, die gezwungen sind, einen Krieg von außen zu beobachten, genau darin bestünde, dieser Verzweiflung zu widerstehen. Die Zeugen der Gewalt, und ich bin einer von ihnen, müssen sich mit dem Gedanken abfinden, dass es unmöglich ist, alle zu retten, solange der Krieg andauert, aber es ist durchaus möglich, Einzelne zu retten, indem man sie unterstützt und ihnen hilft. An dieser Stelle möchte ich eine ukrainische Literaturkritikerin zitieren, die in einem ihrer Essays neulich schrieb: Im Krieg sterben die Menschen massenhaft, überleben tun sie immer nur einzeln. Auch einzeln wird ihnen geholfen, füge ich hinzu. Und indem man ihnen hilft, hilft man auch sich selbst, indem man sie rettet, rettet man die eigene Vorstellung von der Welt, wie sie sein sollte.

Alle möglichen Romane über Kriege

Die besagte Kritikerin lebt in einer frontnahen Stadt, wo pro Tag über 40 Explosionen und Raketenangriffe stattfinden. Aus wichtigen privaten Gründen kann sie nicht ausreisen. Früher hat sie meine Bücher stets positiv besprochen, aber deshalb liebe ich sie nicht. Es gibt wohl keinen einzigen Roman auf der Welt, den sie nicht gelesen hat, keine einzige Schriftstellerin, keinen einzigen Schriftsteller, die sie nicht kennt, über die sie eine begründete Meinung hat. Es war immer ein pures Vergnügen, mit dieser Frau zu sprechen und sie zu lesen. Nach dem Angriff änderten sich (was nicht überrascht) der Ton und die Ausrichtung ihrer Texte. Wie wir alle musste auch diese Kritikerin eine Zäsur erleben, nachdem das Weltbild mit der Realität nicht mehr übereinstimmte. Wie wir alle suchte sie sich einen passenden Ausweg aus, einen Fluchtweg, genauer gesagt, der ihr dabei helfen sollte, geistig nicht aufzugeben. Sie fing also an, alle möglichen Romane über alle möglichen Kriege zu lesen und sie neu zu interpretieren, aus der Perspektive bereits selbst erworbener Kriegserfahrung. Wir treffen uns bei einer Videokonferenz, wir haben uns seit Jahren nicht gesehen. Es ist mir nicht gelungen, einen Roman über den Krieg im Jemen zu finden, sagt sie aus ihrer Wohnung und hält eine Weile inne. Wenig später verstehe ich, dass es irgendwo draußen eine Explosion gab und sie versucht, die Entfernung und somit den Grad der Gefahr zuzuordnen. Dann fährt sie fort: Auch über den Myanmar-Krieg fand ich nichts. Anstelle von Sandsäcken auf ihren Fensterbrettern sehe ich riesige Stapel von Büchern, hoch bis zur Decke.

Selbst in Zeiten des Krieges kann sie sich nur auf Literatur verlassen.

Und doch gibt es auch Menschen, auf die sie sich verlassen kann. Oder?

Doch, es gibt sie. Es gibt sie! (Tanja Maljartschuk, 24.2.204)