Lyriker Yevgeniy Breyer
Yevgeniy Breyger, geb. 1989, studierte an der Universität Hildesheim, am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt. Er gewann den Lyrikpreis München 2021 und erhielt 2022 ein Stipendium der Deutschen Akademie Rom, Villa Massimo.
APA/GERD EGGENBERGER

Seit kurzem wohnt der 1989 in Charkiw in der Ukraine geborene, für seine Dichtung vielfach ausgezeichnete Autor Yevgeniy Breyger in Wien. Er kam als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Deutschland, studierte kreatives Schreiben in Hildesheim und Leipzig, wo er auch die Schriftstellerin Sabine Scholl am Deutschen Literaturinstitut kennenlernte. Die beiden trafen sich in Breygers Wiener Wohnung, wo er mit seiner Frau, der Architektin Angerona Ambrasaite, und zwei Katzen lebt, zu einem Gespräch über mehrsprachiges Aufwachsen und seinen aktuellen Gedichtband Frieden ohne Krieg. Darin reagiert er auch auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und zeichnet Fluchtgeschichten seiner jüdischen Familie nach.

STANDARD: Sie beginnen Ihren Gedichtband mit einer Art Familiengeschichte, warum?

Breyger: Das ist ein Stammbaum, den ich erst einmal für mich zeichnen musste, weil ich oft in die Situation kam zu erklären, woher die Menschen meiner Familie kommen, die seit dem Überfall auf die Ukraine nach Magdeburg zu meinen Eltern geflohen sind – und wie ich mit ihnen verwandt bin. Im Zentrum der Familie stand für mich immer die Geschichte der Flucht meiner Großtante aus Babyn Jar vor dem Massaker 1941. Es gab immer Leute, die diese Geschichte erzählt haben, mit kleinen Abweichungen, je nachdem, aus welcher Perspektive. Ich wollte das zusammensetzen, um ein klares Bild zu bekommen, was genau passiert ist. Wie konnte es etwa sein, dass eine Tante ein Kind bekommen hat, obwohl ich von der gleichen Tante weiß, dass sie keine Gebärmutter hatte. Sind sie gerade vor dem Krieg in der Ukraine geflohen wie eineinhalb Generationen zuvor die Großtante aus Babyn Jar? Ich wollte wissen, wie sich die Familiengeschichte auf meinen Onkel und meinen Cousin ausgewirkt hat.

STANDARD: Sie haben diese Herkunftsgeschichte mithilfe der Erzählungen aller Beteiligten rekonstruiert, um Ihren Standpunkt zu klären, so wie auch in dieser Zeile, die auf dem Cover abgedruckt ist: "Es ist ein Krieg in mir ..."

Breyger: In der Rezension dieses Bandes wurde angemerkt, dass das Wort "mir" auf Russisch "Frieden" heißt, und sich auf den Titel Frieden ohne Krieg bezieht.

Buchcover Breyger
Yevgeniy Breyger, "Frieden ohne Krieg. Gedichte". € 24,70 / 80 S. Kookbooks, Berlin 2023
Kookbooks

STANDARD: Heißt das, die Assoziationen changieren zwischen den Sprachen?

Breyger: Das war besonders im letzten Gedicht entscheidend, wo ich drei Sprachen, Deutsch, Russisch, Englisch, verwende und gemerkt habe, das macht für mich keinen Sinn. Im Endeffekt könnte das, was in einer Sprache steht, genauso gut in einer anderen stehen, es gibt keinen Registerwechsel, es ist nicht so, dass das Englische groß anders ist als das Deutsche oder das Russische. Ich könnte die beliebig vertauschen und habe einfach dann die Sprache gewechselt, wenn ich nicht weitergekommen bin. Es war ein Schreibtrick.

STANDARD: Die Blöcke in den einzelnen Sprachen stehen in sich geschlossen, gehen nicht ineinander über. Wie aber kam es, dass Sie nun auch Englisch als Dichtungssprache verwenden?

Breyger: Es gab diesen Moment, wo ich im Café sitze und merke, dass ich die zwei Sprachen Deutsch und Russisch spreche, die für meine Identität belastete Sprachen sind, und dass ich etwas anderes brauche, um mich auszudrücken. Gleichzeitig hatte ich den Auftrag, T. S. Eliots The Waste Land zu übersetzen. Ich saß daran, während die russischen Truppen sich gesammelt haben. Das Gedicht entstand vor 100 Jahren und beschreibt Krieg, Vertreibung, Flucht und Mord. Ich dachte, es ist verrückt, wie sich das nun wiederholt.

STANDARD: Im Anfangstext allerdings haben Sie die russischen Eigennamen in kyrillischer Schrift eingefügt.

Breyger: Das käme mir wie eine Lüge vor, hätte ich die Namen in lateinischer Schrift gesetzt, weil ich sie ja in kyrillischer Schrift kennengelernt habe. Auch eine Zeile, die für mich extrem wichtig ist, die im Zentrum dieses Bandes steht, in der meine Mutter mich anruft und sagt, dass die Großtante gestorben ist, ist auf Kyrillisch. Sie sagt mir das natürlich auf Russisch. Es wäre die größte Lüge, würde ich so tun, als hätte meine Mutter mir das auf Deutsch gesagt.

STANDARD: Ihre Dichtung erforscht auch, wie man schreibt, wenn man einen mehrsprachigen und vielkulturellen Hintergrund hat.

Breyger: Ja, und wie man mit dem Verständnis und dem Unverständnis umgeht, das damit einhergeht. Denn wenn ich ein dreisprachiges Gedicht vortrage, kann ich davon ausgehen, dass im Raum fast alle mindestens eine dieser Sprachen nicht verstehen.

STANDARD: Im Gedicht "Streuobst" verwenden Sie eine Instagram-Meldung ...

Alte Frau protestiert für die Ukraine
Suche nach Frieden, nicht nur in der Literatur.
IMAGO/ZUMA Wire

Breyger: Das war der einzige Gedichtzyklus, in dem ich akut von den Sachen geschrieben habe, die vor Ort geschehen. Aber ich habe versucht zu benennen, dass es aus den Medien entnommen ist. Ich schreibe zum Beispiel "Angerona zeigt mir das Bild von dem verbrannten Arm", also ich sehe ihn nicht selbst, sondern es ist diese Zwischeninstanz, die ich installiere. Der Zyklus bezieht sich insgesamt auf eine Meldung, nämlich dass die Eltern ihren Kindern Kontaktadressen auf den Rücken schreiben, falls sie verlorengehen. Das hat mich so berührt, dass ich dachte, ich muss eine Ausnahme machen und über etwas schreiben, was mich direkt eigentlich nichts angeht. Auch weil mich das Beschriften des Körpers als Akt der Objektifizierung, aber gleichzeitig Menschlichmachung fasziniert und traurig gemacht hat.

STANDARD: Auch spielt die Abstumpfung in der Kriegsberichterstattung eine Rolle.

Breyger: Ich habe mich gefragt, wie lange es dauert, bis in den Medien Berichte vom Krieg abflauen, und ob das überhaupt ein allgemeiner aufmerksamkeitsökonomischer Prozess ist, oder ob sich ein Vernichtungskrieg in Europa diesen Mechanismen entziehen könnte. Es war sehr ernüchternd zu sehen, dass es immer weniger wird. Dass das eine weitere Nachricht ist, die genauso den aufmerksamkeitsökonomischen Mustern unterliegt. Gleichzeitig habe ich bei mir selbst bemerkt, dass ich die Nachrichten irgendwann nicht mehr ertragen habe und dass ich Pausen brauchte.

STANDARD: In Ihren Texten verweisen Sie oft auf die Selbstreflexion, den Blick des Schreibenden in den Spiegel.

Breyger: Das Hineinschauen in den Spiegel erschafft einen Zwilling oder eben Drillinge, Vierlinge, die aber alle ein bisschen anders sind. Diese Reflexionen sind eine schöne Metapher für ein Nachdenken über sich selbst, das man aktiv leisten und dann perspektivisch einordnen muss, um zum ursprünglichen Bild zurückzukommen. Ich finde es unangenehm, wenn Polemiken angeführt werden, gerade wenn es um Themen wie Krieg geht, ohne dass die Person, die sie äußert, sich selbst in die Betrachtung einbezieht. Dass zum Beispiel in Talkrunden eine Position und eine Gegenmeinung eingeladen werden, aber sobald jemand sagt, da hast du recht, und dies und das muss ich eingestehen, wird das als Schwäche ausgelegt, was ja eigentlich totaler Quatsch ist. Wenn Selbstreflexion und Selbstanklage sofort als Schwäche ausgelegt werden, trägt das stark zur Polarisierung der Gesellschaft bei. Wenn ich angreife, ist es notwendig, mich selbst mit anzugreifen, sonst kann ich den Angriff nicht ernst nehmen. Das gilt nicht nur fürs Schreiben, sondern auch fürs Leben.

STANDARD: Gehört die Scham, die Sie oft erwähnen, zu diesem Prozess?

Breyger: Ja, ich greife Konstrukte an, zum Beispiel den Terminus "Die Deutschen", während ich selbst die deutsche Staatsbürgerschaft habe. Also wäre es seltsam, mich da rauszunehmen und zu sagen, nur weil ich die ersten zehn Jahre meines Lebens in der Ukraine verbracht habe, bin ich immunisiert dagegen, dass Missstände, die ich angreife, für mich nicht genauso gelten können. Auch dafür schäme ich mich.

STANDARD: Welche Bezüge haben Sie zu anderen Autorinnen, die vom Krieg schreiben?

Breyger: Mein stärkster sprachlicher Bezug hat mit der Thematik wenig zu tun. Es ist Rachel Zucker, eine Professorin für Creative Writing und Lyrikerin. In ihrem Gedichtband Museum of Accidents geht es um eine Fehlschwangerschaft, bei der die weibliche Eizelle einen Tumor bildet, der fälschlicherweise als Fötus erkannt wird. Sie hat es erlebt, schreibt tagebuchartig über ihr Umfeld, mit einer unfassbaren Direktheit, über ihren Ehemann und ihre Kinder. Da habe ich geschluckt und gedacht, wenn sie das lesen, müssen sie sie entweder noch mehr lieben oder sie können ihr nicht mehr in die Augen sehen. Ich habe versucht, diese Direktheit und Ehrlichkeit auf das zu übertragen, was ich gerade schreibe.

STANDARD: In der anfänglichen Genealogie wird spürbar, wie liebevoll Sie über die Ihnen nahestehenden Menschen sprechen, das ist das Berührende an diesem Gedicht, dass trotz schwieriger Umstände immer diese Liebe durchscheint.

Breyger: Das war lange Zeit das Problem, wenn ich Prosa geschrieben habe, dass ich Figuren erfand, doch auch wenn sie eine Anbindung zum Realen hatten, hatte ich niemals eine liebevolle Beziehung zu ihnen. Deswegen haben sie nicht mit der nötigen Klarheit existiert.

STANDARD: Wie gestaltet sich der Übergang vom lyrischen Schreiben in die Romanarbeit?

Breyger: Der Übergang macht unheimlich Spaß. Das Erzählen ist in den Gedichten schon stark angelegt, und ich hatte mich gefragt, was passieren würde, wenn ich den Gestus etwas verschiebe, aber klassisches Erzählen beibehalte. Und ob die Probleme, die ich mit Prosaschreiben hatte, eher auf meine Motivation zurückzuführen waren.

STANDARD: Was ist die Motivation für diesen Roman?

Breyger: Der Stoff, den ich erzähle, ist mir wirklich wichtig.

STANDARD: Die Geschichte ist ja auch politisch relevant, obwohl Sie an anderem Ort erwähnen, dass Sie politisches Sprechen ablehnen.

Breyger: Politisches Sprechen in der Kunst oder in der Literatur ist oft Zeichen von unterkomplexen Darstellungen. Wenn ein politischer Text verlesen wird, sitzen im Publikum meist Menschen, die die politische Ansicht teilen, welche Richtung auch immer. Dann wird applaudiert und zugestimmt. Aber das ist ja nicht der Sinn von Kunst. Wenn ich zustimme, arbeitet nichts weiter. Deswegen bin ich da sehr vorsichtig. Wenn ich bloß sage, ich bin für die Ukraine und gegen Russland, sagen die Leute: Stimmt. Aber nichts passiert. (Sabine Scholl, 24.2.2024)