Für Lena Schilling ist es eine Premiere: Kurz nach 10 Uhr zieht Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler von Kameraleuten belagert in den Saal ein. Keine Musik spielt, keine Slogans werden gerufen. Einzig das rhythmische Klatschen der Delegierten und Gäste des Bundeskongress schallt durch den Raum. Standing Ovations. Schilling läuft an seiner Seite. Erst hinter den beiden folgt die grüne Spitzenpolitik: Die Ministerinnen Alma Zadić und Leonore Gewessler sowie Gesundheitsminister Johannes Rauch.

Lena Schilling zieht mit der grünen Parteispitze ein.
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Für die Grünen ist es der 45. Bundeskongress – für Schilling der erste. Und auch ein wichtiger. Sie wird hier in der Grazer Messe zur Spitzenkandidatin der Grünen bei der EU-Wahl bestimmt. Konkurrenz macht ihr dabei niemand, Gegenkandidaten gibt es keine. Im Gegenteil. Zwei, die an diesem Samstagvormittag hinter Schilling laufen, sollen für eine Kandidatur bei der EU-Wahl am 9. Juni abgesagt haben: Umweltministerin Gewessler und Justizministerin Zadić. Und auch die bisherigen EU-Abgeordneten Sarah Wiener und Monika Vana haben sich nicht um eine weitere Amtszeit beworben.

In ihre Rolle als Politikerin muss sich Schilling aber erst noch ganz einfinden. Fast ein wenig schüchtern wirkt die 23-jährige Klimaaktivistin beim Einzug mit der grünen Parteispitze. Dabei ist Schilling die Aufmerksamkeit gewohnt. Als Aktivistin bei Fridays for Future hat sie für den Umweltschutz gestreikt; im Zuge der "Lobau bleibt" Bewegung die Baustelle für die Wiener Stadtstraße besetzt. Am roten Teppich des Wiener Opernballs 2023 enthüllte sie ein Transparent: "Ihr tanzt, wir brennen." Auch da waren die Kameras auf sie gerichtet.

Video: EU-Wahl: Grüne wählen Schilling mit 96,6 Prozent zur Spitzenkandidatin.
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"Es ist immer Politik"

Trotzdem ist es an diesem Tag ein wenig anders: Schilling steht erstmals vor einer parteiinternen Wahl. Sie muss eine Rede vor rund 260 Delegierten halten; muss diese von sich überzeugen; muss sich einen Hearing aller Besucherinnen und Besucher stellen. Schilling wird eine von mehr als 700 Abgeordneten im Parlament sein. Wie sie sich abheben wird, will ein Grüner wissen: "Ich werd weiter laut sein und goschert."

Lena Schilling wird EU-Spitzenkandidatin der Grünen.
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Auf dem Podium hinter dem Rednerpult ist Schilling wieder in ihrem Element. Warum sie jetzt den Schritt in die Politik wagen würde, werde sie immer wieder gefragt, sagt Schilling. Die Frage habe sie "gewurmt". Die Antwort, die sie gefunden habe: Sie mache nicht erst jetzt Politik. Mit Fridays for Future habe sie bereits Politik gemacht. Gemeinsam mit "Lobau bleibt" habe sie Politik gemacht – nicht erst jetzt bei den Grünen. "Jede Bürgerinitiative, jeder Protest – das ist immer Politik", sagt Schilling. Warum sie trotzdem heute gerade hier stehe? "Eine Ministerin hat dieses fossile Milliardengrab abgesagt", erklärt Schilling und meint damit den Wiener Lobautunnel: "Liebe Leonore, vielen Dank. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für einen Sprung mein Herz gemacht hat, wie du das verkündet hast."

"Das Problem ist der Privatjet"

Schilling stehe für Klimaschutz, und die Grünen seien die einzige Partei, die das in ihrer Perspektive auch tun würden. Der letzte Sommer sei der wärmste jemals gewesen, es folge der wärmste Herbst, das wärmste Jahr. "Die Klimakrise ist da. Und wir müssen sie in den Griff bekommen", sagte Schilling. Das Problem sei nicht "der Familienurlaub in Italien. Das Problem ist der Privatjet."

Neben der Klimakrise sieht Schilling aber noch eine "zweite Bedrohung" in Europa: den Rechtsextremismus. In Italien würden hunderte Menschen auf der Straße "offen den Faschistengruß" zeigen, sagt Schilling. In Deutschland treffe sich die AfD mit den Identitären und schmiede Pläne, wie sie Menschen deportieren könne, erklärt Schilling. Und FPÖ-Chef Herbert Kickl spreche von "Fahndungslisten mit politischen Gegnern". Kickl, die AfD und die Identitäten hätten "Gewalt in ihrer Sprache".

Lena Schilling feierte ihre Wahl mit einem Selfie mit grünen Jugendlichen.
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Was die Grünen mit Schilling bekommen? "Meine Kandidatur ist eine Kandidatur fürs Klima und gegen Rechts", sagt die Aktivistin. Das kommt an. Von 261 gültigen Stimmen, entfallen 252 auf Schilling: 96,55 Prozent der Grünen wollen sie als Spitzenkandidatin. Auch wenn Schilling nicht Mitglied der Grünen werden will.

Kogler spricht von bedrohter EU

Vor Schilling betritt allerdings der Parteichef die Bühne und stimmt die Grünen ein. "Mit dir fürs Klima und Europa", steht auf grünem Hintergrund an der Wand hinter Kogler. 2019 hatte dieser die Grünen noch selbst in die EU-Wahl geführt und 14,1 Prozent eingefahren. Laut einer aktuellen Market-Umfrage im Auftrag des STANDARD liegen die Grünen aktuell – mit einem Minus – bei 11 Prozent.

"Niemals zuvor war die Europäische Einigung so bedroht wie jetzt – das muss uns klar sein", sagt Kogler in Graz. "Das demokratische, liberale, weltoffene Europa" sei derzeit in großer Gefahr und werde "massiv angegriffen", betont Kogler: "von außen und von innen."

Werner Kogler zeigte beim Bundeskongress der Grünen seine Solidarität mit der Ukraine.
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Der 24. Februar markiert auch einen Jahrestag: Vor zwei Jahren hat Russland die Ukraine angegriffen. Seither herrscht Krieg in Europa. "Diesen Zuständen gegenüber können wir nicht neutral sein", sagt Kogler und pocht auf das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine. Als Zeichen der Solidarität mit den Angegriffenen trägt Kogler einen Anstecker in den Farben der Ukraine am Revers. Um seiner Unterstützung noch mehr Nachdruck zu verleihen, zieht er während seiner Rede die blau-gelbe Flagge aus der Tasche und wirft sie sich über die Schultern.

Hamlet, der Suderant

Bei allen Defiziten, die die Europäische Union habe, sei sie trotzdem die beste Option. Man müsse trotz des Krieges positiv bleiben, findet der Vizekanzler: "Wir leben in schwierigen Zeiten, aber wir können nicht immer alles niederlamentieren." Shakespeares Hamlet habe zwar Recht: "Die Welt ist aus den Fugen geraten – ja eh", sagt Kogler. Doch "dieser Hamlet" sei ein ordentlicher "Suderant". Er wolle dem ein Zitat von Jean-Paul Sartre entgegenhalten: "Es mag bessere Zeiten geben, aber diese ist die unsere." Koglers Vision: Ein Europa des Miteinanders und des Zusammenhalts – "ein gemeinsames Europa".

Kogler teilte auch gegen die heimische Politik aus: Die SPÖ sei in puncto Klimaschutz – etwa bei der CO2-Besteuerung – verlässlich "auf der falschen Seite", mit der FPÖ und Kickl "kommt Orbanistan, kommt sweNiedergang". Heuer werde es gleich mehrere "Richtungsentscheidungen" geben: In Europa, in Österreich aber auch in der Steiermark, wo der Bundeskongress stattfindet. "Es geht um viel. Es steht viel auf dem Spiel."

Auf dem Platz nach Lena Schilling kandidiert Thomas Waitz für eine weitere Periode im EU-Parlament.
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Bei der anstehenden EU-Wahl wollen die Grünen ihre drei Mandate halten. Der Nachmittag war den weiteren Listenplätzen bis Nummer sechs gewidmet. Für Platz zwei konnte sich EU-Routinier Thomas Waitz durchsetzen, und zwar mit 96,8 Prozent Zustimmung. Er nahm die Wahl freudig an und ließ gleichzeitig wissen, dass er das Amt des Co-Vorsitzenden der Europäischen Grünen nur noch bis Dezember ausüben wird. Platz drei ging mit knapp 70 Prozent an die oberösterreichische Landtagsabgeordnete Ines Vukajlovic. (ook, 24.2.2024)