Über die edle Einfalt, stille Größe seiner Iphigenie hegte Johann Wolfgang von Goethe eine Reihe höchst realistischer Vorstellungen. Der Deutschen liebster Dichterfürst war Minister in Sachsen-Weimar, als er am klassischsten seiner Stücke feilte. Und während er 1779 Soldaten anwarb und bis zum Hals in Realpolitik steckte, legte er seiner Iphigenie Ausdrücke von vollendetem Zartsinn in den Mund: "Heraus in eure Schatten, rege Wipfel…".

Goethe bemerkte die Unstimmigkeit. Er reagierte missmutig. Das Drama wolle "gar nicht fort". Die Strumpfwirker in der Umgebung würden kriegsbedingt hungern, und er habe nichts Besseres zu tun, als das antike Tragödientheater wiederzubeleben.

Klassiker Goethe Ulrich Rasche Szenischer Essay
Iphigenie (Julia Windischbauer) erkundet auf Tauris die nachtschwarze Landschaft klassischer Humanität.
(c) Marcella Ruiz Cruz

Im Wiener Akademietheater besinnt sich Regisseur Ulrich Rasche, ein großer Formalist, mit ganzer Kraft auf die Bestimmung unseres Fortschritts. In seiner trefflich geglückten Inszenierung von Iphigenie auf Tauris tritt alles auf der Stelle. Unaufhörlich rotiert die Drehbühne. Die hohe, ebenmäßige Gestalt der Priesterin (Julia Windischbauer) setzt ihre Schritte gegenläufig, streng, im Uhrzeigersinn. Ihr Antlitz hält sie mit dem Ausdruck stummer Verzückung ins Nichts gerichtet.

Es ist die abgespielte Schallplatte der Humanität, die sich unablässig, in rabenschwarzer Nacht, im Kreise dreht. Iphigenie soll durch ihr edles Beispiel die Zirkelbewegung des Verhängnisses stoppen: den Fluch der Atriden beenden. Dieser ist in den Morden an Agamemnon und Klytämnestra schauerlich kulminiert: letzterer die sühnende Tat des Orest (Ole Lagerpusch), beider Sohn, Iphigenies von den Furien gehetzten Bruders. Der ist in Tauris an Land gegangen, um ein Standbild der Diana zu stehlen und es, auf angebliches Geheiß der Götter, nach Delphi zu bringen.

Szenischer Essay

Das einzig wahre Standbild in diesem szenischen Essay ist jedoch Iphigenie selbst. Sie verkostet Brocken aus Goethes Versmassiv wie Lebkuchenstücke aus einem schlaraffischen Arkadien. Sie haust, inspiriert und zeitgleich entgeistert, wie ein Supermodel im weißen Schlauchkleid unter lauter Wilden: schwarze, hitzige Kerle in Transparenz-Shirts und Röcken (Kostüme: Sara Schwartz). Der Taurer-König Thoas (Daniel Jesch) möchte seiner liebsten Priesterin beiwohnen. Die Einsame weist ihn freundlich ab.

Die Männer bilden in dieser Hetz- und Jagdgesellschaft lauernde Meuten. Die langen Bögen der Goethe’schen Sprache wirken wie zerbrochen. Weitaus wichtiger scheinen hier elementare Zeichen menschlichen Aufbegehrens: Figuren, die sich gegen die Schwerkraft der Gewaltverhältnisse durch die Einnahme der Goethe’sche Medizin behaupten: Stärke gewinnt man durch humanes Pathos. In Rasches Logik kehrt sich die vertikale Anmut antiker Statuen gegen die horizontal wirksame Logik von Rache und Gewalt. Iphigenie, einst zum Opfer bestimmt und von Göttin Diana nach Tauris entrückt, begegnet ihrem Bruder wieder.

Staksender Storch

Orest (Ole Lagerpusch) stakst wie ein Storch über das Drehpodest. Beide Geschwister halten die leeren Hände und Arme geöffnet. Es ist, als sollten die Vertreter der Menschheit Kraft und Zeit finden, einander zu umarmen.

Eine Säule aus Leuchtstäben wandert über die Bühne: Zitat der klassischen Antike, die nur noch als Mauerrest, als leuchtendes Bruchstück, an die alte Harmonie von edler Einfalt, stiller Größe erinnert. Geheimrat Goethe hätte Rasches Inszenierung womöglich seine Zustimmung erteilt. Als "verteufelt human" empfand bereits der Dichter seine marmorglatte Werbung für die Verwirklichung unserer besten Anlagen: Seien wir gut zueinander, hilfreich und edel.

Und so schreiten die zur Verzeihung mehr oder minder genötigten Figuren gemeinsam vereint auf der Bühne im Kreis: in unablässiger Bewegung. Die triumphale Schlussbeleuchtung lässt an das Hochamt einer Pfingstgemeinde denken. Die vordem unablässig grollende Musik – "Drones" von Nico van Wersch – entführt mit Mellotron ins schöne Land Utopia.

"Lebt wohl!", lautet der unmögliche Schlusssatz des Skythen-König Thoas (Jesch). Er darf nicht nur Iphigenie in die Freiheit entlassen – er soll den Verlust, der ihn nicht nur erotisch betrifft, auch noch aus tiefstem Herzen bejahen. Für einen gleißend hellen Augenblick fallen tiefste Verzweiflung und höchste Einsicht in eins. Ein sensationeller Moment. Mit dieser "Iphigenie…" lässt es sich prächtig leben. Das fand auch das jubelnde Publikum. (Ronald Pohl, 24.2.2024)