Der deutsche Dramatiker und Regisseur René Pollesch.
Der deutsche Dramatiker und Regisseur René Pollesch.
Heribert Corn

Die laut Karl Marx versteinerten Verhältnisse brachte Theatermann René Pollesch verlässlich zum Tanzen. Er sang ihnen nicht, wie der Ahnherr der Kapitalismuskritik noch meinte, "die eigene Melodie" vor. Er wusste, dass das Theater, diese Haupt- und Staatsattraktion der Kulturindustrie, ein Untier ist. Und Pollesch, Sohn eines Hausmeisters aus Hessen, machte sich das Monster gefügig. Er fütterte es mit lauter scharf abgeschmeckten Theoriehappen. Und siehe da, sogar die alten, röhrenden Platzhirsche in den Staatstheatern wurden handzahm.

Die unzähligen Komödien dieses Postdramatikers – es müssen über 100 sein – enthalten Sätze und Reflexionsbrocken von so unterschiedlichen Denkerinnen und Denkern wie Jean-Luc Nancy, Donna Haraway, Michel Foucault oder Dietmar Dath. So konnte es passieren, dass sexy Komödienspieler wie Kathrin Angerer oder Martin Wuttke einander lauter Fremdwörter an die heiß gelaufenen Köpfe warfen.

Durchdrehende Turbinenräder

In Pollesch-Stücken gingen Geist und Materie miteinander aberwitzige Verbindungen ein. Gerade kurrente Ideologien wurden kleingehackt und mundgerecht verpackt. Irgendwann waren die Pollesch-Sätze den Schauspielern derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass man meinte, Theorie könne, derart großgemacht und heißgeredet, alles zugleich sein. Sie könne tanzen, tönen, Salti schlagen. Vor allem erstattete der Regisseur-Autor Pollesch den Figuren auf der Bühne die Sehnsüchte zurück, die ihnen der Markt sonst entreißt, um sie sich anzueignen.

Das Ergebnis glich einem jedes Mal neu durchdrehenden Turbinenrad. Pollesch war gekommen, um an der Universität Gießen seine Lektionen in Postdramatik getreulich zu verinnerlichen. Er hatte bei Andrzej Wirth und Hans-Thies Lehmann das alte Konzept der Repräsentation auf dem Theater kennengelernt, um es zu verwerfen.

Mit Freunden, heißt es, okkupierte er unausgesetzt die Probebühne(n). Anfang der 1990er tauchte René Pollesch in der Ostberliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz auf. Er wurde von der Schwelle gewiesen, zog allerlei Ersatzrunden, kreiste über Hamburg und London – und "besetzte" ab 1999 den legendären Prater in der Berliner Kastanienallee. Ihm drückte er als Spielstättenleiter den postdramatischen Stempel auf.

Liebe des Wiener Publikums

Wer glaubte, mit dem Erwerb einer Pollesch-Theaterkarte das Recht auf eine einigermaßen kohärente Handlung zu erwerben, auf Helden und Kanaillen, der war schief gewickelt. In "Cavalcade or Being a Holy Motor" (2013) im Wiener Akademietheater ließ er einen Düsenjäger aus Sperrholz zimmern. Er ließ Drehbühnen in alle Himmelsrichtungen rotieren – und gab den Schauspielerinnen Muße zu sagen, was vordem undenkbar schien. Oder andere, an ihrer statt, für sie im Voraus gedacht hatten.

Das Pollesch-Theater glich einer Zentrifuge. Zugleich war es eine Sammelprüfstelle. In ihm wurde getrost (und durcheinander) über Autounfälle oder Episches Theater geplappert – und man wollte sich daran nicht satthören. Gerade das Wiener Theaterpublikum liebte Pollesch, der Birgit Minichmayr ebenso famos zu einzusetzen verstand wie Sophie Rois oder Milan Peschel.

Nach einem Vierteljahrhundert im Namen Frank Castorfs wurde die Berliner Volksbühne 2021 mit René Pollesch als Intendant neu besetzt. Der freundliche Mann mit der unscheinbaren Brille steckte in seiner betont unglamourösen Arbeitskluft – und wurde seiner Würde als Teamplayer, der konsequent gegen alle bestehenden Hierarchien andenkt, nicht recht froh.

Entsetzen und Trauer

Er wollte dezidiert "nicht alles richtig machen". Er versprach, keine Theatereröffnungsfeten zu schmeißen. Er würdigte die alte Utopie der Kollektivarbeit: Macht abgeben, die Anbahnung von Erkenntnissen als gemeinsames Projekt betreiben.

René Pollesch hatte – vielleicht wider Willen – die Stafette des Bertolt-Brecht-Theaters übernommen. Jetzt hat sein völlig überraschendes Ableben die Fortführung dieser unendlich wichtigen Arbeit schnöde unterbunden. Wer soll statt seiner jetzt die Verhältnisse zum Tanzen bringen?

Pollesch ist 61-jährig "plötzlich und unerwartet gestorben". An der Volksbühne bekundet man Entsetzen. Und tiefe Trauer. (Ronald Pohl, 27.2.2024)