Corti Restaurantkritik Nährer
Das alte Gasthaus steht noch, der Betrieb aber ist in einen luftigen Neubau vis-à-vis übersiedelt – und Mike Nährer kocht besser denn je.
Gerhard Wasserbauer

Irgendwann wurde die Qualität feiner Restaurants plötzlich an der Kleinheit der Speisekarte gemessen. Je minimaler, desto besser, manche gingen so weit, gar nix mehr zur Auswahl zu stellen – und wurden mit Höchstnoten geehrt. Die Idee vom Restaurant als magischem Ort, wo der Gast es sich aussuchen und, für die kleine Ewigkeit eines Abends, ein bisschen wie im Paradies fühlen darf, wurde so eher nicht befördert. Dafür entwickelte die Vorstellung, dass nicht der Gast, sondern der Koch König sei, dass idealer (oft: minimaler) Wareneinsatz und maximale Preisgestaltung sich keineswegs ausschließen müssen, bemerkenswerten Sog. Einige der höchstdekorierten Restaurants des Landes arbeiten bis heute so. Dennoch: Der Trend scheint wieder abzuflachen.

Mike Nährer zum Beispiel, der nennt sein neues Restaurant in Rassing weiterhin Gasthaus. Es ist ein paar Kilometer von der A1-Afahrt Böheimkirchen, aber auch nicht weit von St. Pölten gelegen. Einerseits im Nirgendwo, andererseits nahe am Speckgürtel im Westen der Hauptstadt. Die Buchungslage ist beachtlich, selbst an einem Montag im Februar. Auch Nährer bietet ein "Carte blanche"-Menü. Aber er hat auch eine Speisekarte, auf der piemontesische Trüffeln mit Spiegelei locken, eine schulmäßig butterige Frittatensuppe, ganz köstlich geschmorte Chicorée mit frisch gehobelter, zitrusduftiger Bergamotte und knusprigem Buchweizen oder ein besonders saftiges Schweinsschnitzel mit gemischtem Salat. Es gibt viel für Veganer und Vegetarier, aber auch Beuschel und Kalbskopf, es gibt Karpfen und Wildschwein, aber auch Beiried und Putenschnitzel. Gäste von weiter her locken, aber das Dorf nicht verlieren – so nennt sich diese Übung wohl.

Nährer hat bei einigen der besten Köche (Wagner-Bacher, Veyrat, Adrià ...) seiner Zeit gedient, bevor er vor bald 17 Jahren ins Wirtshaus der Eltern heimkehrte und wieder Schnitzel, aber nicht nur, kochte. Jetzt hat er sich, gleich vis-à-vis dem Stammhaus, ein luftiges neues Restaurant geleistet. Winzer („Vergessene Gärten“) ist er auch geworden – und ein bemerkenswerter noch dazu. Nährer wirkt trotz vollen Hauses gelassen. "Es rennt wie a Glöckerl", sagt er im Vorbeigehen, mit zwei Tellern zum nächsten Tisch unterwegs.

Kann man auch als Gast so sehen. Rahmbeuschel wird aus Reh, Hirsch und Wildschwein zusammengeschnitten, weil Nährer ganze Tiere verarbeitet. Mürb, geradezu sanft und mollig abgeschmeckt, der kleine Semmelknödel dazu ist fest und doch flaumig. Gebackener Kalbskopf ist ausgelöst und nicht faschiert, so wünscht man sich das. Er wird in Torpedoform paniert auf senfig scharfem Erdäpfelsalat serviert, gibt’s als Vor- und als Hauptspeisenportion.

Vegane Hollandaise

Corti Restaurantkritik Nährer
Wildschweinbackerl mit Tombinamburpüree und einer ordentlichen Portion Fisolen
Gerhard Wasserbauer

Kalbsrahmgulasch in großen, saftig-mürben Stücken ist ein Musterbeispiel seiner Art: Würzig und doch mollig, so kann das nur die echt gute Wiener Küche. Broccoli dazu ist nicht klassisch – passt aber. Rehrücken wird auf den Punkt gebraten und mit einem Schöpfer Ragout von der Schulter, aber auch mit Sellerie und knackigem Kohl serviert. Nährer ist einer, der Gemüse nicht als Deko missversteht, wie das anderswo zum feinen Ton gehört. Gebratene Karotte mit Miso-Hollandaise, Süßkartoffeln, Quinoa und Haselnuss kann’s auch, mit Crunch und Schmelz und vielen konkurrierenden Aromen, die schön zusammenfinden – nur die vegane Hollandaise hat ein bisserl viel Säure abbekommen. Ordentlich Gemüse gibt es auch zu den löffelweich und würzig geschmorten Wildschweinbackerln, gutes Topinamburpüree und eine ordentliche Portion Fisolen nämlich (siehe Bild).

Nährers Weine will man kosten, es ist bemerkenswert, wie viel Persönlichkeit und Tiefgang diese Reben auf einem Hügel hinter dem Dorf hergeben, die vor vielen Jahrzehnten zur Selbstversorgung der Bewohner angepflanzt – und irgendwann vergessen wurden. (Severin Corti, 1.3.2024)

Restaurantkritik Gasthaus Nährer Corti Der Standard
Gebackener Kalbskopf mit Erdäpfel-Vogerlsalat (Vorspeisenportion).
Foto: Gerhard Wasserbauer
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Zweierlei vom Rehbock mit Sellerie und Federkohl.
Foto: Gerhard Wasserbauer
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Rahmgulsch vom Kalb mit Rahmspätzle und Brokkoli.
Foto: Gerhard Wasserbauer