St. Pölten – Der Fall des von der Mutter beinahe zu Tode gequälten Buben, der derzeit vor Gericht verhandelt wird, wirft auch die Frage auf, ob die Behörden versagt haben. Immerhin gab es, einen Monat bevor der Junge am 22. November 2022 vollkommen ausgehungert und mit einer Körpertemperatur von nur noch 26,5 Grad Celsius aufgefunden wurde, eine Gefährdungsmeldung der Schule. Kurz darauf folgte eine weitere von Spitalsärzten. Und auch die Polizei ist mit der Familie im November in Berührung gekommen: Denn der Junge schaffte es, einmal zu entkommen, fragte in Lokalen und Geschäften nach Essen und bei einer Familie um eine Übernachtungsmöglichkeit, ehe er aufgrund der zwischenzeitlich von der Mutter erstatteten Abgängigkeitsanzeige wieder der Mutter übergeben wurde.

Schule schritt ein

Die Sonderschule, so viel wurde am Dienstag vor Gericht klar, hat mehrmals und mit Nachdruck Alarm geschlagen. Am 13. Oktober gab es ein Gespräch mit der Mutter, wie eine Lehrerin aussagte. Der Bub war bereits mehrere Tage krankgemeldet, außerdem fiel der enorme Gewichtsverlust über den Sommer auf. Die Mutter habe ausweichend reagiert und zwei Tage später darüber informiert, dass ihr Sohn die Schule wechseln wolle. Am 20. Oktober wurde die Kinder- und Jugendhilfe des Landes Niederösterreich erstmals telefonisch kontaktiert. Also etwas mehr als einen Monat bevor der Bub gerade noch rechtzeitig gefunden wurde. Am 25. Oktober erfolgte die offizielle Gefährdungsmeldung der Schule bei der Kinder- und Jugendhilfe. Danach habe sie am 3., 8., 9. und 17. November dort angerufen und gewarnt, da der Bub nicht mehr in die Schule kam. Einen Tag bevor das Martyrium des Buben endete, sprach die Schule auch noch mit dem leiblichen Vater, um sich bei ihm nach dem Wohl des Buben zu erkundigen. Er habe von der Gefährdungsmeldung aber gar nichts gewusst.

Was im Gesetz steht

Was das Handeln der Kinder- und Jugendhilfe betrifft, wurde laut Soziallandesrätin Ulrike Königsberger-Ludwig (SPÖ) gesetzeskonform gehandelt. Das habe eine Überprüfung durch die Fachaufsicht gezeigt. Die rechtlichen Vorgaben sehen so aus: Der örtlich zuständige Kinder- und Jugendhilfeträger muss Gefährdungsmeldungen nachgehen und eine Abklärung einleiten. Wenn laut Mitarbeitern eine Gefährdung vorliegt, ist mittels eines Hilfsplans festzulegen, wie sie beseitigt werden kann. Bei Gefahr im Verzug sind Sofortmaßnahmen zu setzen.

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Das Medieninteresse am Prozess rund um den gequälten Buben ist groß. Die Zeugenaussagen werfen Fragen nach möglichem Behördenversagen auf.
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Der heute 13-Jährige wird sich von den psychischen Folgen laut Gutachtern wahrscheinlich nie erholen. Dass er noch lebt, ist einem Anruf der Zweitangeklagten bei einer Sozialarbeiterin zu verdanken. Sie kannte die Familie bereits seit dem Jahr 2017 aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie und blieb auch, als sie nicht mehr für sie zuständig war, mit der Mutter in Kontakt.

Wieso wurde nicht früher eingeschritten? Mit dem Fall Vertraute verweisen auf die psychische Störung der Mutter, die ihr von einem Gutachter attestiert wurde. Auch wird darauf verwiesen, dass für die Kinder- und Jugendhilfe die Vorgabe gelte, immer das gelindeste Mittel zu finden. Aus dem Prozess geht hervor, dass sie gegenüber dem Jugendamt Versprechen abgab, die sie dann offensichtlich nicht einhielt. Bleibt natürlich die Frage, wieso die körperliche Verfassung des Jungen kein Anlass für eine Abnahme war.

Das Jugendamt war am 28. Oktober und am 18. November vor Ort. Da habe der Junge gezittert und blaue Hände gehabt, sagte der Sozialarbeiter vor Gericht. Mit dem Kind allein habe er nicht gesprochen, die Mutter war immer anwesend. Die Situation habe er zwar "auffällig" gefunden, "Gefahr in Verzug" habe er aber nicht gesehen.

Lehren aus dem Fall noch unklar

Welche Lehren aus dem Fall gezogen werden, steht noch nicht fest. Königsberger-Ludwig setzte im Sommer eine Expertenkommission ein. Deren Arbeit wurde kürzlich abgeschlossen, die Ergebnisse werden laut der Landesrätin kommende Woche präsentiert. Betont wird, dass es nicht darum gehe, ein Urteil zu fällen oder Schuldige zu benennen.

Dass Kommissionsberichte von Experten mögliche Missstände im Kinder- und Jugendbereich auch aufzeigen und klar benennen können, zeigte Ende 2022 ein Bericht in Wien: Hier wurde eine Expertenkommission von der Wiener Bildungsdirektion eingerichtet, um einen aufsehenerregenden Missbrauchskomplex um einen Wiener Sportlehrer zu untersuchen. Laut dem Bericht ist die Existenz von 40 Opfern belegt. Es habe ein "Systemversagen auf allen beteiligten Ebenen" gegeben, wurde von der Kommission festgehalten. Diese formulierte auch mehrere Empfehlungen, die mittlerweile laut Bildungsdirektion alle umgesetzt worden sind. Darunter befinden sich ein verpflichtendes Kinderschutzkonzept für Schulen, die Einrichtung einer Kompetenzstelle "Kinder- und Jugendschutz" bei der Bildungsdirektion und eine verpflichtende Meldekette mit dem Landeskriminalamt Wien. (Lara Hagen, David Krutzler, 28.2.2024)

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APA