Eine Frau allein in einem Kinosaal.
Ganz allein sind Menschen, die über negative Erfahrungen beim Film und Theater sprechen, heute nicht mehr.
APA/dpa/Frank Rumpenhorst

Daniel Sanin ist als Psychologe für die Anlauf- und Beratungsstelle für Film und Fernsehschaffende in Österreich, #WeDo, tätigt. In der kürzlich erschienenen NDR-Dokumentation "Gegen das Schweigen. Machtmissbrauch beim Film und Theater" sammelten Journalist:innen über 200 Erfahrungsberichte über Machtmissbrauch und entwürdigende Arbeitsbedingungen in der Film- und Theaterbranche. Sanin überraschten weder die konkreten Berichte vieler Menschen dazu noch die genannten Namen von Männern, die ihre Machtpositionen immer wieder ausgenutzt haben sollen.

STANDARD: Die Dokumentation "Gegen das Schweigen" zeigt ein Arbeitsfeld voller Einzelkämpferinnen auf, jeder steht mit jedem in Konkurrenz. Ist das ein wesentlicher Nährboden für Machtmissbrauch?

Sanin: Ja. Das Feld ist von einer extremen Selbstständigkeit geprägt. Fast alle sind Vermarkter ihrer selbst. Man ist gewissermaßen selbst das "Produkt", und wenn dieses Produkt schadhaft oder kompliziert zu handeln ist, dann ist es unattraktiv. Es kann durchaus am Set gute Stimmung herrschen, und es können sich auch Solidaritäten bilden, aber man ist nie Teil eines fixen Teams. Diese hohe Konzentration an Ich-AGs ist ein wichtiger Faktor.

Ein weiterer Faktor ist, dass dieses Arbeitsfeld von enorm hohem Druck geprägt ist, sowohl von zeitlichem als auch ökonomischem Druck. Wenn eine starke Isolation der Einzelperson auf Ressourcenknappheit in Bezug auf Geld, Zeit, Personal oder was auch immer trifft, dann steigt das Risiko, dass etwas eskaliert.

Daniel Danin von #WeDo.
Daniel Sanin: "Das Thema ist immer da, aber plötzlich gibt es Raum, darüber zu sprechen."
Nina Springer

STANDARD: Trotz dieser schwierigen Arbeitsverhältnisse sprechen viele in der Doku immer wieder davon, dass sie unbedingt dabei sein wollen.

Sanin: Ja, diese große Liebe zur Arbeit kommt im Filmbereich noch hinzu und bringt auch eine enorme Aufopferungsbereitschaft mit sich. Man will Teil davon sein, Teil dieses Kulturproduktes, dieses Filmes. Und man ist natürlich auch abhängig davon.

STANDARD: Die Journalistinnen haben drei Jahre in der Filmbranche zu Machtmissbrauch und Übergriffen recherchiert und mit über 200 Personen gesprochen. Haben Sie bestimmte Schilderungen oder die Namen der Männer, die wiederholt ihre Macht missbraucht haben sollen, überrascht?

Sanin: Nein, überrascht hat mich nichts. Aber wir sind inzwischen nur mehr selten überrascht. Es gibt natürlich große Unterschiede im Ausmaß der Grenzverletzungen.

STANDARD: Menschen, die in weniger angesehenen Jobs beim Film arbeiten, haben in der Doku nur anonym gesprochen. Es waren auch weniger als Schauspielerinnen und Schauspieler. Wie erklären Sie sich das?

Sanin: So wie jegliche Sorgearbeit in unserer Gesellschaft nichts gilt und unsichtbar ist, so sind es auch jene Tätigkeiten im Film, die eigentlich erst die Basis für alles schaffen. Das wird nicht gesehen und nicht wertgeschätzt.

Beim Film kommt auch noch das Spezifikum des Scheinwerferlichts, eines Star- und Geniekults hinzu. Die einen stehen ganz oben, die anderen sind – salopp formuliert – das Fußvolk und gelten als austauschbarer. Das stimmt allerdings nicht, denn auf die Schnelle findet man auch für die Jobs hinter der Kamera nicht so schnell Ersatz.

STANDARD: Vorfälle in der Filmbranche lösten 2017 die #MeToo-Welle aus. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein? Bewegt sich was?

Sanin: Es entwickelt sich gut. Dass heute deutlich mehr darüber gesprochen wird, zeigt nicht, dass plötzlich viel passiert. Das Thema ist immer da, aber plötzlich gibt es Raum, darüber zu sprechen. Wir haben verschiedene Angebote, etwa Workshops oder Beratungen, und alles wird viel in Anspruch genommen. Viele Produktionsfirmen sind inzwischen sehr engagiert.

STANDARD: Werden Beratungen von Stellen wie #WeDo auch als Feigenblatt benutzt? Wie die Doku zeigt, schmücken sich Produktionsfirmen schnell damit, dass sie sich bereits mit Macht- oder Missbrauchsthematiken befassen würden.

Sanin: Das Risiko gibt es immer. Doch im Prinzip ist es egal, ob eine Firma anfragt, weil ihr das Thema wichtig ist, oder weil sie denkt, das muss jetzt halt sein. Es geht nur darum, dass etwas passiert und man miteinander ins Gespräch kommt. Wenn wir zum Beispiel auch nur zu einem Warm-up eingeladen werden, bei dem sich die ganze Crew zum ersten Mal trifft, haben wir die Möglichkeit, einfach zu zeigen, was alles möglich wäre. (Beate Hausbichler, 28.2.2024)