FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube in der Camueus Bibliothek der Freien Universität Berlin.
Jürgen Kaube analysiert die Gesellschaft mit dem systemtheoretischen Instrumentarium seines "soziologischen Lehrers" Niklas Luhmann.
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Das Narrativ von der Spaltung der Gesellschaft durchdringt seit einiger Zeit den öffentlichen Diskurs – in (sozialen) Medien und in politischen Reden. Aber was ist dran an dieser Diagnose? Ist sie eher ein diffuses Gefühl des Unwohlseins denn eine echte Zerreißprobe? Jürgen Kaube, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), gibt dazu mit dem Soziologen André Kieserling im Buch Die gespaltene Gesellschaft Entwarnung.

STANDARD: Gehen wir es direkt an: Wie gespalten ist denn unsere Gesellschaft jetzt?

Kaube: Wenn man unter Spaltung versteht, dass die Bevölkerung sich entlang eines Großkonflikts zwischen Arm und Reich, Stadt und Land oder pro und kontra Ukraine aufreibt, dann sind wir in Deutschland und Österreich nicht sehr gespalten, denn wir haben ganz viele Konflikte mit sehr unterschiedlichen Konfliktlinien – und mal sind die einen auf der Seite und dann auf der anderen. Wir haben auch keine politische Repräsentation dieser Unterscheidung, keine Stadt- und Landpartei oder Migranten- und Inländerpartei. Was nicht heißt, dass es keine Polarisierungen gibt. Der Streit ist auch oft sehr giftig und wird mit unglaublichen Übertreibungen munitioniert.

STANDARD: Die Tatsache, dass wir zwar viele gesellschaftliche Konflikte haben, bei diesen aber nie alle auf der jeweils selben Seite stehen, entschärft das Streit- und Spaltungspotenzial also?

Kaube: Ja, wenn wir beide uns jetzt über irgendetwas streiten würden, dann wird dieser Streit in der Regel dadurch etwas gedämpft, dass ich davon ausgehen muss, dass wir morgen in einem anderen Konflikt auf derselben Seite stehen. Das ist ein Grund, warum Konflikte in einer Vielzahl existieren können, aber nicht entflammen, weil sich die Leute nicht eindeutig einer Konfliktpartei zuordnen. Das sieht man auch dort, wo es stark organisierte Streitparteien gibt. Wir haben jetzt den Streit im Feminismus um Transsexualität. Bei den Grünen wurde sehr schnell zwischen Fundis und Realos unterschieden. Der Kommunismus hat sich in viele Kleinstparteien und Ideologien zerlegt. Das hält die Spaltung ein bisschen auf, weil sich die Kräfte, die gegen andere antreten, zuerst selbst spalten, bevor die Gesellschaft sich zerlegt. Und ein wichtiger Grund, warum moderne Gesellschaften meist nicht gespalten sind, ist die Arbeitsteilung. Wenn wir einen Streit haben, etwa entlang einer historischen Spaltung nach Konfessionen, dann hat man bald gesehen, dass es keine katholischen und protestantischen Banken, Bäcker oder Ärzte gibt, sondern nur Banken, Bäcker und Ärzte, die sich für diese Streitereien nur begrenzt interessieren.

"Wir sollten uns nicht über Wahlkämpfe und Talkshows einreden lassen, wir stünden kurz davor, eine gespaltene Gesellschaft zu werden."

STANDARD: Welche Kriterien müssten erfüllt sein, damit Sie von einer gespaltenen Gesellschaft sprechen würden?

Kaube: Nehmen wir eine Gesellschaft, die gespalten ist: Nordirland. Obwohl schon geraume Zeit offiziell Friede herrscht, gehen 95 Prozent aller Kinder auf eine konfessionelle Schule, man wohnt in Vierteln, die homogen katholisch oder protestantisch sind. Ein Großteil der Betriebe beschäftigt überragende Anteile der einen oder anderen Konfession. Die Parteien sind ohnehin konfessionell, konfessionelle Mischehen noch extrem selten. Ähnlich ist es in manchen Gegenden der USA. Man wohnt sozusagen republikanisch oder demokratisch. Aber ich bin sicher, dass Herr Trump in seinen Hotels auch demokratische Wähler hat. Er stellt sie an, und sie sind bereit, für ihn zu arbeiten. Stichwort Arbeitsteilung. Hauptsache, der eine macht seine Arbeit und der andere bezahlt ordentlich. Aktuelles Beispiel ist sicher Israel. Eine Gesellschaft, die sich entlang der ethnisch-religiösen Unterscheidungslinie stark separiert. Wir würden nicht verneinen, dass es gespaltene Gesellschaften gibt. Der Punkt ist nur, wir sollten uns nicht über Wahlkämpfe und Talkshows einreden lassen, wir stünden kurz davor, eine gespaltene Gesellschaft zu werden.

STANDARD: Welche Rolle spielt das politische System? Ist unser Mehrparteiensystem mit Parteien auch am äußeren Rand weniger spaltungsanfällig als das Zweiparteiensystem in den USA, wo quasi zwei Blöcke institutionalisiert sind?

Kaube: Natürlich ist ein Zweiparteiensystem näher daran, dass Polarisierungen aufkommen, obwohl in den 60er-Jahren die Diagnose umgekehrt war, nämlich dass sie sich immer ähnlicher werden. So wie zwei Eisverkäufer am Strand, die aufeinander zulaufen, weil sie dann das Hinterland für sich gewinnen, und am Ende sind sie beide in der Mitte – was eigentlich für die Kundschaft nicht gut ist, weil die dann relativ weite Wege hat. Seit mindestens 30 Jahren beobachten wir aber den gegenteiligen Prozess. Unser etwas unübersichtliches System, in dem sehr unterschiedliche Abgeordnete in die Parlamente gewählt werden, wirkt entpolarisierend. Außerdem gibt es viele Wechselwähler. Auch das spricht gegen Polarisierung. Da gibt es kuriose Mischungen, Leute, die von den Grünen zur AfD gehen und umgekehrt. Oder Corona. Da waren Leute gegen die Impfung, weil sie an Jesus glauben, der sie schützt, und andere glaubten an Rudolf Steiner und ließen sich deswegen nicht impfen. Es gab auch im grünen Milieu Skeptiker, und so zeigen sich zwar kleine, aber doch Überschneidungen. Diese Leute können ja von sich aus gar nicht sagen, dass die Gesellschaft gespalten ist, weil sie selbst mal da und dann dort sind.

STANDARD: Wem nutzt eigentlich die behauptete Spaltung, oder wer kann damit "arbeiten" , sie quasi bewirtschaften und nutzbar machen?

Kaube: Zum einen ist die Politik im Wahlkampf immer geneigt, zu sagen: Wenn ihr die anderen wählt, geht das Land unter. Das ist maximale Spaltung. Das Land geht dann natürlich nie unter. Aber in Wahlkämpfen lässt man den Leuten das durchgehen. Nur je kontinuierlicher wir Wahlkämpfe haben, desto stärker kommen diese drastischen Redensarten zum Tragen. Donald Trump war so ein Fall. Er hatte die Wahl gewonnen und machte mit dem Wahlkampf einfach weiter. Dabei hat das ja eigentlich keinen Sinn, wenn man die Leute, mit denen man nachher im Parlament Kompromisse schließen muss, vor der Wahl als Staatsfeinde oder Untergang der Nation beschreibt. Die Leute merken das, und es nutzt sich ab, wenn man jahrelang sagt, die Gesellschaft spaltet sich, und sie tut es dann nicht. Das meiste geht einfach so weiter.

Wir haben in den sozialen Medien eine Publikationsfläche, in der nahezu kriterienlos drauflos gemeint werden kann, und das begünstigt natürlich auch diese unfassbar gespaltene Welt.

STANDARD: Zum anderen ist die erklärte Lieblingsspielwiese des Übertreibungsgeschäfts und der Spaltungsgesellschafter das Internet.

Kaube: Ja, es ist das Feld, auf dem diese Spaltungsbehauptungen geradezu wuchern. Wir nennen das im Buch etwas unfreundlich "die Maulhelden". Sie twittern ständig, dass jetzt Schluss sei. Oder wie oft ich das Wort "unfassbar" lese. Dieselbe Person postet im Monat 50 Tweets, in denen sie etwas "unfassbar" finden. Man möchte ihr eigentlich zurufen: Jetzt könntest du dich doch daran gewöhnen, dass offenkundig alles unfassbar ist. "Unfassbar" ist da etwa, dass die FDP unternehmerfreundlich ist. Man kann das ja kritisieren, aber unfassbar ist es nicht. Das ist ein, ich nenne es: Milieu der unredigierten Texte. Niemand würde etwas, das er am Samstag in der Zeitung geschrieben hat, am Dienstag noch einmal anbieten. Dann wird ihm jemand sagen: Wie oft willst du das noch schreiben? Aber auf X sagt einem niemand: Du, das passt aber nicht zu einem anderen Argument. Das heißt nicht, dass in den Zeitungen alles nur helle Aufklärung und Wahrheit ist, aber wir haben in den sozialen Medien eine Publikationsfläche, in der nahezu kriterienlos drauflos gemeint werden kann, und das begünstigt natürlich auch diese unfassbar gespaltene Welt.

STANDARD: Was folgern Sie daraus?

Kaube: Wir wissen aus der Geschichte der Medien, der Zeitungen, der Druckerzeugnisse, dass sie immer eine kleine Tendenz zur Übertreibung haben. Sie ziehen aus der Gesellschaft Konflikte und Personen heraus, obwohl es viele gesellschaftliche Gebiete gibt, in denen es keine Konflikte gibt, wo sich die Zahlen nicht ändern und Personalisierung gar keinen Sinn hat. Dabei ist es genau das, was man eigentlich von Zeitungen, vom Fernsehen und vom Radio her unter Kontrolle bringen muss – dass man den Alarmismus nicht übertreibt.

STANDARD: Wo sehen Sie den zum Beispiel?

Kaube: Wenn ich die Zeitdiagnosen ernst nehmen würde, hätte ich in ungefähr 35 verschiedenen Gesellschaften gelebt. In der Klassengesellschaft, der Arbeitsgesellschaft, am Ende der Arbeitsgesellschaft, das Verschwinden des Eigentums wurde diagnostiziert, die Wissens- und die Informationsgesellschaft. Zuerst wird gesagt, sie ist da, das zweite Buch heißt dann immer "Das Ende von ..." und das dritte "Die Wiederkehr von ...". Dazu muss man ein bisschen Distanz gewinnen. Die Gesellschaft verändert sich, gar keine Frage, aber so sehr verändert sie sich dann auch nicht, dass wir jedes halbe Jahr sagen müssten, wir leben in einer anderen Gesellschaft. Das ist ja gar nicht der Fall. Wir erkennen sie ja ständig wieder. (Lisa Nimmervoll, 29.2.2024)